Stadtteil: Neuhof / Hildesheimer Wald / Marienrode
[W] Das Waldgebiet im äußersten Südwesten Hildesheims wird seit 1440 Hildesheimer Wald genannt.
Im Zuge der Aufrüstung der Wehrmacht wurde 1935/36 für den Bedarf der Luftwaffe im Auftrag des Reichsluftfahrtministeriums (RLM) von der Robert Bosch AG (seit 1937 eine GmbH) ein Werk mit dem Tarnnamen Dreilinden Maschinenbau GmbH (DLMG) in Kleinmachnow bei Berlin gebaut. Dieses zum Schutz gegen Fliegerangriffe getarnte „Ausweichwerk I“ (auch „Außenwerk I“ genannt) war eine hundertprozentige Bosch-Tochter und stellte neben anderen Komponenten hauptsächlich Einspritzpumpen für Daimler-Benz-Flugmotoren (DB 601, DB 605 etc.) her, die z. B. im benachbarten Genshagen bei der Daimler-Benz Motoren GmbH gebaut wurden.
Für die Ausrüstung von Fahrzeugen des Heeres sollte Bosch auf Rechnung der Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie („Montangesellschaft“, siehe auch Montan-Schema), einer Treuhandgesellschaft von Heereswaffenamtbzw. OKH, im Hildesheimer Wald das „Ausweichwerk II“ bauen, das von einer Firma mit dem Tarnnamen ELFI („Elektro- und Feinmechanische Industrie GmbH“) gepachtet werden sollte. Dieses von den beiden Stuttgarter Firmen Bosch (98 % der GmbH-Anteile: 49.000 RM) und Bauer (2 %: 1.000 RM) gegründete Unternehmen ELFI war ein reiner Rüstungsbetrieb und (ab Herbst 1943 alleiniger) Hersteller von Startern, Lichtmaschinen, Magnetzündern und Schwungkraftanlassern für Panzer- und große Lkw-Motoren.
Daraufhin wurde 1937 zwischen der reichseigenen Montangesellschaft und der Stadt Hildesheim ein Kauf- und Erschließungsvertrag über ein 42 Hektar großes Areal im Hildesheimer Wald abgeschlossen. Nach Zukauf eines angrenzenden Streifens 1943 war das Gelände ca. 61–63 Hektar groß. (Zum Vergleich: Der Große Garten in Hannover hat eine Fläche von knapp 50 Hektar.) Die Stadt Hildesheim sollte die Gas-, Wasser- und Stromversorgung bereitstellen, eine Buslinie für den Werksverkehr einrichten und ausreichenden Wohnraum schaffen. Von Neuhof aus wurde auf Kosten der Stadt die (Hildesheimer-)„Waldstraße“ (heutige „Robert-Bosch-Straße“; Kreisstraße 103) gebaut, die anfangs auf keiner Karte verzeichnet war, um das neue ELFI-Werk (Adresse: Hildesheim-Neuhof, Waldstr. 200) geheim zu halten.
Baubeginn des Werkes war im August 1938, das Richtfest konnte im Dezember 1940 gefeiert werden. Als Schutz gegen feindliche Luftaufklärung war das Werk ohne große Freiflächen angelegt. Die niedrig gehaltenen Gebäude wurden unter weitgehender Beibehaltung des alten Baumbestandes errichtet. Um Schäden bei möglichen Luftangriffen gering zu halten, wurden die getarnten Hallen schräg versetzt in möglichst kleinen Waldschneisen angeordnet.
Die Fertigung begann im Laufe des Jahres 1941, wobei Lehrlingsausbildung, Anlernwerkstätten, Kleinfertigungen und Vorrichtungsbau noch in der Stadt untergebracht waren.
Weil andere deutsche Unternehmen gleiche oder ähnliche Marken und Begriffe wie „ELFI“ verwendeten und diese daher Verwechslungen befürchteten, wurde nach deren Reklamationen im Februar 1941 aus einer Fülle von Vorschlägen heraus die Firma zunächst in „Elufin Hildesheim“ geändert. Da im Warenregister auch unter „Elufin“ bereits zwei Einträge existierten, erfolgte schließlich im Dezember 1942 eine erneute Änderung in „Trillke-Werke“. Der auf den benachbarten Trillkebach zurückgehende Name hatte dann bis April 1952 Bestand, als die Trillke GmbH als Werk Hildesheim auch offiziell Teil von Bosch wurde.
Bis Mitte 1944 hatte das ELFI-/Trillke-Werk keinen Bahnanschluss. Da der steigende Werkspersonenverkehr wegen des im Krieg rationierten Dieselkraftstoffs nicht ausreichend geleistet werden konnte, wurde bereits Anfang der 1940er Jahre geplant, die Buslinie zum Werk im Hildesheimer Wald mit Oberleitungsbussen zu betreiben. Nach diversen Schwierigkeiten mit der Zuteilung des ebenfalls kontingentierten Kupfers für die Fahrleitung und der Beschaffung der Fahrzeuge konnte im August 1943 die O-Buslinie der Straßenbahn Hildesheim den Betrieb zum Werk aufnehmen. In Hildesheim endete der O-Bus-Verkehr im Mai 1969.
Um eine Verbindung zum Netz der Deutschen Reichsbahn zu erhalten, wurde zum Werk von September 1943 bis Juni 1944 ein 2,4 km langes Anschlussgleis als Abzweig der Kleinbahnstrecke Marienburg (Han)–Hildesia zur Munitionsanstalt Diekholzen gebaut. Im September 1944 betrug die Trillke-Mitarbeiterzahl rund 4300,[6]davon knapp 3700 am Standort Hildesheimer Wald. Etwa 47 % davon waren Ausländer, in der Mehrzahl Zwangsarbeiter. Bis Kriegsende wurden fast ausschließlich die oben aufgelisteten Anbauteile für Ottomotoren gefertigt. Die Trillke-Werke waren ab Herbst 1943 alleiniger Hersteller dieser Komponenten, da deren Fertigungseinrichtungen im Bosch-Stammwerk („Lichtwerk“ und „Zünderwerk“) Feuerbach durch die Luftangriffe auf Stuttgart stark gefährdet waren und im September/Oktober 1943 in die Trillke-Werke verlegt wurden.
Für die Beschäftigten wurde unweit der Fabrik eine Wohnsiedlung gebaut, die den Namen „Hildesheimer Wald“ erhielt. Da ein Teil der Belegschaft – seinerzeit in der Sprache des Nationalsozialismus auch „Gefolgschaft/Gefolgsleute“ genannt – von Bosch aus Stuttgart nach Hildesheim versetzt worden war, erhielten die Straßen in dem neuen Wohngebiet Ortsnamen aus Baden-Württemberg, zum Beispiel 1939 der Feuerbacher Weg (Stuttgart-Feuerbach ist Sitz des Bosch-Stammwerkes). Der Uhlandweg erhielt 1941 seinen Namen nach dem schwäbischen Dichter Ludwig Uhland.
Die Bosch-Tochter Blaupunkt-Werke GmbH mit Stammwerk in Berlin-Wilmersdorf verlegte im Januar 1945 ihre durch die Schlacht um Ostpommern gefährdete Fertigung von „Korfu“-Funkmessgeräten in Küstrin (Tarnname „Udo-Werke GmbH“, nach Udo Werr, einem Mitarbeiter von Blaupunkt-Geschäftsführer Paul Goerz) zu Trillke in den Hildesheimer Wald. Bereits knapp zwei Jahre vorher war nach der weitgehenden Zerstörung des Wilmersdorfer Werkes am 1. März 1943 durch einen britischen Luftangriff ein Großteil der Fertigungen nach Berlin-Treptow (Ost-Berlin), Reichenberg (damals „Reichsgau Sudetenland“) und andere Standorte verlegt worden, die später sämtlich in die Verwaltung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) fielen.
Nach Kriegsende im Mai 1945 wurde in Hildesheim zunächst mit der Reparatur von Rundfunkgeräten begonnen und von der dort Ende 1945 neu gegründeten Blaupunkt-Apparatebau GmbH (BPAG) der Plan gefasst, monatlich 5000 Radiogeräte zu fertigen. Blaupunkt stellte bereits 1932 mit dem „Autosuper AS 5“ das erste in Europa entwickelte Autoradio vor und entwickelte sich später zum führenden deutschen Autoradiohersteller. Nach der Verlegung des Firmensitzes von Berlin nach Hildesheim erfolgte Anfang der 1950er Jahre die Umfirmierung der BPAG zur Blaupunkt-Werke GmbH. Ab 1948 stellte Blaupunkt wieder Autoradios her und konnte am 16. Juni 1959 das einmillionste Gerät ausliefern. Zu der Zeit fanden im Bosch/Blaupunkt-Werk 6000 Menschen Arbeit bei Blaupunkt,[7] dazu kamen knapp 4000 in der Bosch-Fertigung für die Autoindustrie.[2] Im April 1964 waren bereits 3 Millionen Geräte gebaut. Nach dem 25-millionsten Autoradio Mitte 1979 lief im Juli 1990 das 50-millionste Blaupunkt-Autoradio vom Band. In den 1970er Jahren hatte Blaupunkt weltweit insgesamt 13.700 Mitarbeiter.[8]
Die Trillke-Werke und der gesamte Stadtteil überstanden die Luftangriffe auf Hildesheim im Zweiten Weltkrieg ohne irgendwelche Schäden. Am 7. April 1945 erreichten Truppen der 9. US-Armee das Werk. Bereits Ende Juni erhielt es von der Militärregierung der Britischen Besatzungszone die Genehmigung zur Wiederaufnahme einer „Friedensproduktion“. Anfang 1952 bestand für Trillke nicht mehr die Gefahr, Opfer einer Dekartellisierung zu werden. Die „Trillke-Werke GmbH“ wurde daher im April 1952 im Handelsregister gelöscht und als Robert Bosch GmbH, Werk Hildesheim vom Betreiber Bosch übernommen.