Wer sich auf der Linie Hamburg – Hannover – Frankfurt befindet oder von Berlin nach Westfalen und dem Rheinland reist oder sich in Braunschweig, Hannover und dem Harz aufhält, wird gern einen Ausflug nach Hildesheim unternehmen. Zu den verschiedenen Eisenbahnlinien tritt noch die elektrische Straßenbahn von Hannover nach Hildesheim hinzu.
Man wird von einem eintägigen Aufenthalt schon einen hohen Genuss haben und das Wesentlichste besichtigen können; wenn auch mehrere Tage notwendig sind, um ein vollständiges Bild der Stadt zu erhalten und die Einzelheiten in Ruhe auf sich wirken zu lassen.
Vom Hauptbahnhof (von Goslar her kann man schon auf dem Ostbahnhof aussteigen) gehe man der Straßenbahn in der Bernwardstraße entlang durch die Almsstraße zum Marktplatz, auf welchem sich sogleich der ganze Reiz der mittelalterlichen Bauwerke in seltener Erhaltung als wirkungsvolles Bild zeigt. Der nahe Andreasplatz stellt eine ältere Marktanlage mit unversehrten Gildehäusern und Wohngebäuden der gotischen u d Renaissancezeit dar; in der Mitte des Platzes steht die mächtige Andreaskirche mit gewaltig emporragenden gotischen Formen. An dem einige Minuten entfernten Domhof sind in behaglicher Breite die Kurien des Bischofs und der Domherren gelagert, und hinter dem ehrwürdigen Dome, der in der Architektur wie im Innenraum die Spuren seiner Geschichte an sich trägt, liegt zwischen dem modernen Regierungsgebäude und dem barocken Bischöflichen Gymnasium auch die gemütliche alte Domschenke.
Man verwende ein bis zwei Stunden darauf, die Straßen der Altstadt zu durchstreifen und suche in ihnen die mittelalterlichen Wohnhäuser mit Fassaden in Fachwerk oder geschnitzter Holzverkleidung auf. Es ist außerordentlich lohnend, hierbei nicht nur eine Fülle von reizvollen und interessanten Erzeugnissen des Bauhandwerks der Gotik und Renaissance kennen zu lernen und an der Erfindungsgabe und dem volkstümlichen Humor in den bildlichen Darstellungen seine Freude zu haben, sondern man vermag sich an vielen Stellen heute noch ganz und gar in das Mittelalter zurückzuversetzen. Von den etwa 700 mittelalterlichen Häusern Hildesheims stehen viele noch in großen Gruppen oder ganzen Straßenzügen beisammen, sodaß sich unserem Auge geschlossene Bilder der Stätte mittelalterlichen Lebens darbieten, wie sie uns selten in Deutschland geboten werden. Man würdige bei dem Rundgang durch die Straßen besonders den vom Bahnhof her nach Süden laufenden Zug Almsstraße – Hoher Weg – Altpetristraße – Platz und den parallelen Zug Osterstraße – Scheelenstraße. In beiden Zügen liegen in der Nähe des Marktes, der sich zwischen ihnen befindet, hervorragende Bauten, besonders in der Gegend der Rathausapotheke und am Ratsbauhof. Die im Süd-Osten der Stadt belegene Neustadt ist durch die Friesenstraße zugänglich und enthält den Neustädter Markt mit stimmungsvollen Gebäuden in wohltuender Unberührtheit und die ebenso unversehrte Wollenweberstraße.
Von der Neustadt aus versäume man nicht, auf dem schattigen Wall entlang zu gehen, der hübsche Blick auf die Stadt wird der Freund altdeutscher Kunst und Geschichte an zahlreichen Stellen Halt machen, die ihm malerisch Ansichten von Plätzen und Gebäuden gewähren; man wird oft von Durchblicken und Umrahmungen überrascht, wie sie ein Künstler nicht besser gestellt und farbenreicher ausgeschmückt haben könnte.
Die Kirchen sind meist den ganzen Tag über zugänglich durch den Küster; auch Dom und Michaeliskirche sind am Vor- und Nachmittag wenigstens einige Stunden freigegeben. Die Museen kann man den ganzen Tag über besichtigen; man gehe zunächst am Markt in die kunstgewerblichen Sammlungen im Knochenhaueramthaus, später im Südwesten der Stadt in das ältere Roemer-Museum mit Naturwissenschaften, Völkerkunde und Abteilungen für Kunst und Geschichte sowie in das jüngere Pelizaeus-Museum mit hervorragenden ägyptischen und griechischen Altertümern aus Ägypten.
Man unterlasse es nicht, sich im Laufe des Tages vom Galgenberg (im Osten, mit Gastwirtschaft) aus einen Blick über die Stadt und die bewaldeten Höhen in die Ebene zu verschaffen. Vom Moritzberg (Gastwirtschaft Berghölzchen) aus ist der Blick auf das Stadtbild und das Innerstetal besonders reizvoll in den Abendstunden und bei Sonnenuntergang.
Textquelle: "Führer durch Hildesheim", Verlag F. Borgmeyer; Hildesheim 1921; Seite 8f