Translator:
Da wo jetzt Hildesheim steht, war früher Alles "Wool" (Wald), vor dem Dammtore und bei St. Michaelis ist noch Holzung gewesen, als die Stadt schon erbaut war; darum heißt die Straße bei St. Michaelis noch heute "Wohl".
Nun traf es sich, daß gerade dieser Wool vom deutschen Kaiser Ludwig oft des Jagens wegen besucht ward. Einst begab es sich, daß er auch hier jagte, er verfolgte hitzig einen weißen Hirsch, und ob er wohl ein sehr schnelles Roß hatte, so war doch der Hirsch noch flinker, er lief über Berg und Thal, sprang über die Innerste und schwamm durch, der Kaiser immer hinterdrein, sprang auch ins Wasser, verlor aber dabei sein Pferd und seine Hunde; der Hirsch entkam und der Kaiser schleppte sich müde und matt noch eine Strecke weiter unter einen hohlen Baum um auszuruhen. Er führte aber allezeit ein Marienbild an seinem Halse mit sich, er legte dies inzwischen auf einen Stein, und als er es wieder an sich nehmen wollte, vermochte er es nicht von der Stelle zu bringen. Da fiel der Kaiser auf die Kniee und betete zu Gott, daß er ihm kund thät, ob er einer Missethat schuldig sei, deswegen das Bild nicht von dem Steine weichen wolle? Da hörte er eine Stimme rufen, die sprach: "So ferne und weit ein Schnee fallen wird, so groß und weit sollst Du einen Thumb (Dom) bauen, zu Marien Ehren!".
Und alsbald hob es an vom Himmel zu schneien auf die Stätte. Da sprach Ludwig: "Dies ist Hilde Schnee und es soll auch Hildeschnee heißen".
So weit nun der Schnee gefallen war, stiftete er einen Kirchenbau, unserer lieben Frauen zu Ehren, und Günther war der erste Bischof, den er darin bestätigte. Also bekam der Dom und die Stadt den Namen nach dem Schnee, der "do hilde (schnell)" fiel, das ward genannt Hildeschnee und dann Hildesheim.
Text-Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des Preußischen Staates , Band 2, Glogau 1868/71, S. 888
Als Ludwig der Fromme in der Winterzeit bei Hildesheim jagte, verlor er sein mit einer Reliquie angefülltes Kreuz, das ihm vor allen lieb war. Er sandte seine Diener aus, um es zu suchen, und gelobte, an dem Orte, wo sie es finden würden, eine Kapelle zu bauen.
Die Diener verfolgten die Spur der gestrigen Jagd auf dem Schnee, und sahen bald aus der Ferne mitten im Wald einen grünen Rasen und darauf einen grünenden wilden Rosenstrauch. Als sie ihm näher kamen, hing das verlorene Kreuz daran; sie nahmen es und berichteten dem Kaiser, wo sie es gefunden. Alsobald befahl Ludwig, auf der Stätte eine Kapelle zu erbauen und den Altar dahin zu setzen, wo der Rosenstock stand.
Dieses geschah, und bis auf den heutigen Tag grünt und blüht der Strauch und wird von einem eigens dazu bestellten Manne gepflegt. Er hat mit seinen Ästen und Zweigen die Rundung des Doms bis zum Dache überzogen.
Text-Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des Preußischen Staates , Band 2, Glogau 1868/71, S. 888-889
Herzog Magnus von Braunschweig fiel im Jahre 1367 mit einem großen Heere und mächtigen Bundesgenossen in das Stift Hildesheim und verheerte das ganze Land aufs Furchtbarste. Da sammelte der Bischof Gerhard seine streitbaren Männer um sich und zog auf sein Recht und die heil. Jungfrau vertrauend muthig dem bei weitem überlegenen feindlichen Heere entgegen. "O, heilige Jungfrau", rief der Bischof als er an der Spitze seiner Mannen einherzog, "heute kommt es auf Dich an, ob Du unter einem Strohdache oder unter einem goldenen Dache wohnen willst; siegen die Feinde, so werden sie den Wohlstand der Stadt und der Kirche vernichten und wir werden nicht mehr die Mittel haben, Deinen Tempel würdig zu schmücken, gibst Du uns aber den Sieg, so fällt großes Gut in unsere Hände, und dann sollst Du unter einem goldenen Dache wohnen!" –
Als nun die Truppen des Bischofs in der Gegend von Dinklar (siehe Schlacht von Dinklar) den übermächtigen Feind in seiner Siegesgewißheit jubelnd heranrücken sahen, da wurden Viele verzagt, aber Gerhard richtete ihren Mut wieder auf und rief, indem er seinen linken Ärmel schüttelte: "Lieben Leute trauert nicht, hier habe ich noch tausend Mann in meinem Ärmel!" Der Bischof hatte nämlich das größte Heiligtum der Stadt, das von Ludwig dem Dome vermachte Reliquiengefäß in seinem Ärmel. – Nach diesen Worten ihres Führers waren die Krieger gewiß, daß die Hilfe der heiligen Jungfrau mit ihnen war, gewaltig andrängend setzte das kleine Häuflein in den mächtigen Feind und nach kurzem Kampfe bedeckten 1500 Feinde, unter ihnen viele Ritter und Edele die Wahlstatt. Was von den Feinden noch auf den Beinen war, suchte sein Heil in der Flucht und das ganze Lager fiel mit seinen Schätzen in die Hände der Hildesheimer. Von diesem Gute nun ließ der Bischof, seinem Gelübde getreu, das goldene Dach machen, welches noch heute den östlichen Domturm schmückt.
Text-Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des Preußischen Staates, Band 2, Glogau 1868/71, S. 889
Im Dome zu Hildesheim sieht man über einer der nördlichen Eingangstüren ein schauerliches Gemälde; ein Geistlicher im bischöflichen Gewande steht predigend auf einer Kanzel und ringsumher erheben sich die in der Kirche begrabenen fleischlosen und halbverwesten Todten aus den Gräbern. Das Bild erzählt eine Begebenheit, die einst in der Kapelle zu Luzienvörde geschehen ist.
Ein frommer und heiliger Bischof zu Hildesheim hatte vor seinen aufrührerischen Untertanen aus der Stadt flüchten müssen. In dem benachbarten Kirchlein zu Luzienvörde suchte er Schutz vor den Verfolgern und bestieg die Kanzel, um die nachdrängenden Rebellen noch einmal eindringlich von ihrem bösen Tun abzumahnen. Die Rebellen aber richteten ihre Gewehre auf den heiligen Mann und da dieser unter den Lebenden keinen sah, der zu seiner Hilfe bereit war, so rief er: "Ihr Todten, steigt aus Eueren Gräbern und steht mir bei!" Kaum war das Wort gesprochen, da tat Gott ein Wunder, und zum Grausen der bösen Verfolger erhoben sich unter ihren zitternden Füßen die Grabsteine und drohend streckten sich fleischlose Arme den Rebellen entgegen. Da flüchteten diese eilends aus der Kirche, baten unter vielen Tränen den Bischof um Verzeihung und führten ihn im Triumph in die Stadt zurück.
Text-Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des Preußischen Staates, Band 2, Glogau 1868/71, S. 891
Wenn ein Domherr in Hildesheim sterben sollte, so wußte er dies schon drei Tage vorher, denn am Morgen des dritten Tages vor seinem Ableben fand er auf seinem Sitze im Chor eine weiße Rose; dann bestellte er sein Haus und bereitete sich zum Tode.
Text-Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des Preußischen Staates, Band 2, Glogau 1868/71, S. 898
Aus der Mauer der St. Godehardi-Kirche hängt schon seit lieben langen Jahren ein Stein. Einige sagen, er sei vom Blitz aus den Fugen gebracht, Andere meinen, Pappenheim habe ihn mit einer Kugel getroffen. Wenn dieser Stein erst aus der Mauer fallen sollte, so kommt die Kirche an die Lutheraner.
Text-Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des Preußischen Staates, Band 2, Glogau 1868/71, S. 899
Der große liebe Gott (d. h. ein Crucifix), der neben der Orgel in der St. Godehardi-Kirche hängt, ist so groß wie ein Riese. Keiner weiß, wo er gemacht ist, denn er ist einmal bei einer Überschwemmung auf der Innerste hergekommen. Als er aber beim Godehardi-Kloster angekommen war, drehte er sich immer auf dem Wasser herum und wollte nicht weiter schwimmen. Da fischte man ihn auf und brachte ihn in die Kirche.
Schon viele hundert Jahre hatte er aber hier gehangen, als die Franzosen kamen und aus der Kirche ein Heumagazin machten. Dabei war ihnen aber der "große liebe Gott" im Wege, schon machten sie sich daran, ihn von der Wand zu reißen, aber kaum hatten sie ihn angerührt, als er herabfiel und zwei von den gottlosen Franzosen erschlug. Seitdem hat man ihn wieder aufgehängt und Niemand wieder seine Hände an ihn gelegt.
Text-Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des Preußischen Staates, Band 2, Glogau 1868/71, S. 899
Vor vielen, vielen Jahren hieß es einmal, im Finkenberge hielte sich ein Wolf auf. Da nahmen die Bürger aus der Stadt die Gewehre, um den Wolf zu schießen; sie jagten und jagten, aber es ließ sich kein Wolf sehen, drum glaubte man, daß es nur so ein Geschwätz gewesen wäre und ging zu Hause.
Schon am anderen Morgen aber kam die Nachricht in die Stadt, daß der Wolf auf dem Moritzberge in einem Schafstall gebrochen sei und die Schafe zusamt den Schäfer erwürgt habe. Nun umstellte man das ganze Holz, durchsuchte jeden Busch, aber umsonst.
Da schüttelte ein alter Jäger, „der mehr als Brot essen konnte“, bedenklich den Kopf und meinte, das ginge nicht mit rechten Dingen zu, der Wolf müsse ein Werwolf sein, gegen den könne kein Jagen helfen, aber man solle ihn nur machen lassen. Die Leute waren gern mit dem zufrieden, was der Jäger tun wollte, und dieser stellte nun eine Falle auf, in welche er drei ganz kleine Kreuze von Osterholz versteckte.
Als man am anderen Tage nachsah, war die Falle richtig zugeschnappt, und was saß darin? Ein „versoffener“ Schneider vom Moritzberg. „Nun wahr‘ dich, du Werwolf!“ rief der alte Jäger, warf dem Bösewicht einen Zaum über den Kopf und schleppte ihn zum Galgen. Das Volk jubelte, als man den Bösewicht aufzog; aber bald verkehrte sich sein Jubel in Staunen und Verwunderung, mit offenen Mäulern guckten und guckten die Leute nach dem gehenkten – doch da hing im Galgen weder ein Wolf noch ein Schneider, sondern ein Bund Stroh.
Text-Quelle:
Karl Seifert: Sagen und Märchen von Hildesheim; Verlag: August Lax, Hildesheim 1914; 3. Auflage, Seite 16