Was Goethe über seine Vaterstadt Frankfurt sagte, ließ sich auch auf unsere Stadt übertragen: "Hildesheim steckt voller Merkwürdigkeiten". Man könnte deren viele aufzählen. Sie sind im Feuersturm des 22. März 1945 untergegangen. Aber von zweien, die uns das technische Zeitalter beschert hat, soll die Rede sein.
Das ist zum einen unsere Elektrische. Mühsam quälte sie sich durch die engen, verwinkelten Straßen und quitschte und ächzte zum Gotterbarmen in jeder der vielen Kurven. Es gab nur eine Spur. In gewissen Abständen waren Ausweichstellen angelegt. Dadurch wurde ein Gegenverkehr ermöglicht. Der Pelizäusplatz war Verkehrsknotenpunkt. Dort trafen sich die drei Linien, und man konnte von der einen in die andere umsteigen. Die Einhaltung eines bestimmten Fahrplans war wegen des Auftretens unvorhersehbarer Hindernisse und Störungen nicht möglich.
Gespräche wie dieses wiederholten sich täglich mehrmals. Ein Fremder fragt einen einheimischen:
"Wie komme ich am besten zum Bahnhof?"
Gegenfrage: "Haben sie es eilig?"
Antwort: "Ja sehr. Mein Zug fährt in 20 Minuten."
Rat: "Dann gehen Sie zu Fuß, immer den Schienen nach!"
Einwand: "Aber ich bin schlecht auf den Beinen."
Achselzuckend: "Ja, dann müssen Sie wohl die Elektrische benutzen. aber ob sie dann noch Ihren Zug erreichen, ist recht zweifelhaft!"
Es fuhr nur der Motorwagen. Lediglich an schönen Sommersonnentagen, wenn der größte Teil der Bürgerschaft ins Freie ausschwärmte, zog er hinter sich einen nach den Seiten offenen Anhänger, den sogenannten "Sommerwagen", her. Das war dann stets eine Sensation, besonders für die Kinder.
Aus rationellen Gründen waren Ein- und Ausstieg nur vorn möglich. Rechts von der Tür, die in das Wageninnere führte, befand sich ein verglaster Kasten, in den man unaufgefordert das Fahrgeld bzw. die Fahrmarke (beim Kauf von 7 Fahrmarken für eine Reichsmark sparte man 5 Pfennig) einzuwerfen hatte. Der Fahrer mußte darauf achten, daß jeder Fahrgast dieser Pflicht nachkam. Von Zeit zu Zeit betätigte er einen Griff, wodurch die eine Seite des Kastenbodens angehoben wurde. Geld und Fahrmarken rutschten in einen darunter befindlichen, nicht einsehbaren verschlossenen Kasten. Bei starkem Andrang entglitt dem Fahrer allzuleicht die Kontrolle, was Kenner zur "Freifahrt" ausnutzten. es gab Leute, die darin eine gewisse Virtuosität entwickelt hatten.
Auseinandersetzungen zwischen Fahrer und Fahrgästen waren an der Tagesordnung. Meistens wurden die Falschen beschuldigt, das Fahrgeld noch nicht entrichtet zu haben. Solche Zwischenfälle sowie das Geldwechseln und der Verkauf von Fahrmarken verzögerten oft über Gebühr die Abfahrt des Wagens, wodurch der Gegenverkehr an der Überholstelle lange Wartezeiten in Kauf nehmen mußte. es ist also durchaus verständlich, wenn man eiligen Fremden den Rat gab, besser zu Fuß zu gehen.
Die andere Merkwürdigkeit in Hildesheim war das Telefon. Während man überall in Deutschland bis in die späten zwanziger Jahre hinein Ortsgespräche nur über Handvermittlung ("Fräulein, hier 1254 bitte 1146!") führen konnte, hatte Hildesheim - als einzige Stadt - schon weit vor dem 1. Weltkrieg den Selbstwähldienst.
Ein Unterschied zwischen früher und heute bestand in der Handhabung. Man wählte die Nummer dessen, den man anrufen wollte, mußte dann aber auf einen Knopf drücken, um die Glocke am Apparat des anderen zum Läuten zu bringen. Aus der Art und der Länge des Geläuts ließen sich bereits vor Abheben des Hörers Rückschlüsse auf den Charakter des Anrufers ziehen. ein zartes Anschlagen der Glocke verhieß ein angenehmes Gespräch mit einer Dame. Langanhaltendes Gerassel kündigte einen Grobian an, gegen den man sich sofort wappnen konnte.
Eigentlich schade, daß dieser letzte Rest an menschlicher Individualität inzwischen der Weiterentwicklung der Telefontechnik zum Opfer gefallen ist.
Hildesheim ist aber auch - gut, daß sich das noch nicht herumgesprochen hat - die Geburtsstätte des Telefonmißbrauchs. Beim Selbstwähldienst kann - im Gegensatz zum Handwähldienst - der Anrufer nach Schluß des Gesprächs nicht mehr ermittelt werden. Er blieb anonym.