Im November 1918 hielt die Revolution auch Einzug in das verträumte Hildesheim. Kieler Matrosen brachten sie in einem großen offenen Kraftwagen mit Tatü-Tata. Furchterregend wirkten die auf den Schutzblechen in malerischer Pose ausgestreckten Revoluzzer mit ihren Gewehren im Anschlag. Die Bürger dieser Stadt sahen sich das Spektakel mit Kopfschütteln und einem gewissen Nervenkitzel an, gingen dann aber wieder ihrer gewohnten Tätigkeit nach.
Indes befreiten die Fackelträger der Revolution die im Godehardigefängnis einsitzenden vom Joch kaiserlicher Tyrannei und gründeten den örtlichen Revolutionsrat. Weniger auffällig und dramatisch verließen sie am Tage darauf die Stadt, da sie über Nacht ihres Statussymbols beraubt waren. Der Fahrer des Wagens, dessen Polster vorher nur die ehrenwerten Allerwertesten hoher Admirale gedrückt hatten, war in der Nacht klammheimlich davongebraust.
Zurück blieben die Arbeiter- und Soldatenräte, bestehend aus - wie hätte es auch in Hildesheim anders sein können! - vernünftigen und gemäßigten Bürgern. Diese bekamen jedoch die umherstreuenden, entlaufenen Soldaten nicht immer in den Griff, zumal wenn diese sich zusammenrotteten und Sonderaktionen unternahmen.
In diesen Tagen erwies sich Hildesheims "Ober", Dr. Ehrlicher (mein Großvater war sein persönl. Sekretär; H.J.B.), als ein Ritter sonder Furcht und Tadel. Er blieb hart gegenüber ungesetzlichen Forderungen, auch wenn man ihm dabei die Faust unter die Nase hielt. Um ihn weich zu machen, setzte man ihn im Rathaus fest. Aufgestellte Posten verwehrten jedem den Zutritt zu ihm.
Nun benötigte man aber gerade in diesen Tagen dringend eine Unterschrift des Stadtoberhauptes, um die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen. Die Bürokratie erwies sich auch damals als der unerschütterliche Fels im Wirbel der Ereignisse. Sie beharrte darauf: Ohne ordnungsmäßig ausgefertigte Formulare gibt's nichts! Die Belagerer ließen sich, ungeachtet der Vorstellung einer drohenden Hungersnot, nicht erweichen, jemanden zu Ehrlicher vorzulassen.
Es bildete sich so etwas wie ein Krisenstab, in dem jeder, mit Blick auf den anderen, dem Motto huldigte: "Hannemann, geh' Du voran, Du hast die größten Stiefel an!" Schließlich brachte der Kaufmann Adamski nach einigen Überlegungen die Krisenstäbler zum Aufatmen, indem er sagte: "Gut, ich will versuchen, zu Ehrlicher vorzudringen!"
Aus der Schneiderei seines Hauses ließ er sich einen im "Rohbau" befindlichen Anzug geben, legte sich ein Maßband um den Hals und ein Nadelkissen um den linken Unterarm. So ausgestattet, erschien er an der Rathaustür. Völlig verdutzt fragten die Posten: "Nanu, was wollen sie denn hier?" Antwort: "ich muß beim Oberbürgermeister eine Anprobe machen, meine Leute können nicht weiter!" Darauf waren die Leute ganz und gar nicht vorbereitet und ließen in der allgemeinen Verwirrung den angeblichen Schneidermeister passieren.
Nach einer guten Stunde kehrte dieser, mit den erforderlichen Unterschriften und dazu noch einer Reihe von Anordnungen und Vollmachten in der Tasche, zurück.
Mit überaus großer Freundlichkeit bedankte er sich bei den Besetzern und versicherte: "Das war wirklich sehr nett von Ihnen, so brauche ich doch meine Leute nicht zu entlassen!" barsch kam es zurück: "Schon gut! Verschwinden Sie!" Was dieser denn auch, so schnell die Füße ihn tragen konnten, tat.
Es war in den Revolutionstagen 1918. Die Zeiten waren unruhig und unberechenbar. Um die städtische Polizei zu verstärken, wurde die "Hildesheimer Bürgerwehr" aufgestellt. Vertrauenswürdige Bürger, zumeist Kaufleute und Beamte, die zum Kriegsdienst untauglich oder reklamiert waren, erhielten eine Armbinde mit der Aufschrift "Bürgerwehr" und ein Infanteriegewehr 98 samt Munition.
Sie sollten im Ernstfall vor allem die öffentlichen Einrichtungen schützen. Es war ein Glück für die Bürgerschaft insgesamt und für die Bürgerwehrler im einzelnen, daß ein solcher Ernstfall nie eintrat. Denn von den "wehrhaften" Männern hatte kaum einer jemals zuvor ein Gewehr in der Hand gehabt, geschweigedenn einen Schuß draus abgegeben.
Zu den Aufgaben der Bürgerwehr gehörte auch der Wachdienst auf dem Andreaskirchturm, deer damals noch eine umlaufende Galerie hatte. In normalen Zeiten diente sie einer auf dem Turm installierte Feuerwache, Ausschau nach allen vier Windrichtungen zu halten. Bei Ausbruch eines Brandes mußte sie die Feuerglocke läuten sowie durch Heraushängen einer roten Fahne bei Tag und einer roten Lampe bei Nacht den Männern der Freiwilligen Feuerwehr den Weg zur Brandstelle weisen.
In den Novembertagen 1918 traten die Kaufleute Rothschild und Adamski "militärischen Wachdienst" auf dem Kirchturm. Die beiderseitigen halbwüchsigen Söhne benutzten die Gelegenheit, ihre Väter in luftiger Höhe zu besuchen und dabei ihrer Abenteuerlust nachzugehen. Beim Herumkraxeln im oberen Teil des Turmes entdeckten sie das Sprachrohr, mit dem die Feuerwache den Feuerwehrmännern von oben den genaueren Ort des Brandherdes zuriefen. Sie steckten es durch eine der Turmluken und schrien nach Leibeskräften, um sich ihren Freunden und Angehörigen bemerkbar zu machen.
In jenen unruhigen Zeiten war man nur allzu schnell geneigt, in jedem ungewohnten Vorgang eine besonders schwere Bedrohung zu wittern. Während die Jungen ihr Allotria trieben und die beiden Wehrmänner beim gemütlichen Plausch in der warmen Wachstube ihre Zigarren rauchten, bildeten sich unter ihnen, in den Straßen der Altstadt, aufgeschreckte Menschengruppen, die heftig gestikulierend zum Turm aufschauten. Plötzlich verbreitete sich in Windeseile das Gerücht, auf dem Andreaskirchturm sei ein Maschinengewehr in Stellung gebracht worden. Der Arbeiter- und Soldatenrat trat zusammen und entsandte eine Deputation zur Untersuchung der Angelegenheit. Von unten wurde durch ein Haustelefon der Wache das Kommen der Leute mitgeteilt. Adamski hatte das Gespräch angenommen. Besorgt fragte Rothschild: "Nun, was ist los?" Der bekümmerte Gesichtsausdruck seines Kameraden reizte Adamski, mit ihm seinen Scherz zu treiben. Mit Grabesstimme sagte er: "Rothschild, jetzt wird's ernst! Sie kommen! Gewehr in Anschlag! Ich nehme den ersten aufs Korn, Sie müssen den zweiten erledigen!" "Um Himmelswillen", schrie Rothschild, "ich kann doch gar nicht schießen! Ich weiß überhaupt nicht, wie das Ding funktioniert!" Und weg war er.
Nachdem die "Räte" sich überall vergeblich nach dem Massenmordinstrument umgeschaut hatten und wieder die mehr als hundert Stufen heruntergestiegen waren, stellte Adamski das Fehlen seines Wachgenossen fest. "Rotschild, Rotschild, wo sind Sie denn?" Keine Antwort. Nun wurde es ihm siedenheiß: "Wenn der Mann sich nur nichts angetan hat!" Endlich in der Wachstube ertönte unter dem Bett eine klägliche Stimme: "Hier! - Sind se weg?"