[15] Wenige deutsche Städte haben so lange und so rein die Grundzüge ihrer alten Verfassung neben äußerer Selbständigkeit bewahrt, wie Hildesheim.
Wir wissen von der städtischen Verwaltung und den städtischen Gerechtsamen, namentlich dem Bischof gegenüber, aus den Zeiten, welche dem 13. Jahrhundert vorangingen, nur sehr wenig.
Es hatte Hildesheim 1196 ein gemeines Stadtrecht, nach welchem ein bischöflicher Vogt allerdings den Vorsitz in Gerichten führte, das Urteil aber, welches jener nicht umwerfen konnte, wie er auch keine Einwirkung auf dessen hatte, von aus den freien Bürgern genommenen Schöffen gefällt wurde. Neben diesem „Voigtdinge“, welches peinliche und bürgerliche Fragen entschied, bestanden „Gogerichte“ für geringere Sachen, und nahmen die „Rathmannen“ die städtische Polizei wahr.
Ob die zwölf Rathmannen nacheinander, jeder einen Monat lang, den Vorsitz und die Leitung der städtischen Angelegenheiten hatten, ist sehr zweifelhaft; als gewiss kann es gelten, dass nicht erst seit 1449 auf ein Jahr gewählte Bürgermeister an der Spitze der städtischen Verwaltung standen. Von der Mitte des 15. Jahrhunderts ab ist die letztere uns genauer bekannt.
Das städtische Regiment (vom griech. regimen = Regierung) lag wahrscheinlich auch hier in der älteren Zeit in den Händen von Patriziergeschlechter, ward diesen aber bald von den Zünften und der Gemeine abgerungen, so dass ihnen der Weg zu den städtischen Ehrenstellen nur als Mitgliedern einer anderen Korporation geöffnet war; vom 15. Jahrhundert an gehörte der Hildesheimer Geschlechtersohn in der Regel dem Knochenhaueramte, oft auch mehreren Zünften zugleich an.
Im Jahre 1445 ward der Rat durch die Bürgerschaft abgesetzt und wählte die Gemeinde 6, die Ämter (Gerber und Schuster, Bäcker, Knochenhauer), welche ihre Privilegien vom Bischof hatten, 3 und die „fünf vom Rathe privilegierten Gilden“ (Wollenweber, Kramer, Kürschner, Schmiede und Schneider) gleichfalls 3 Männer. Diese schwuren, nicht eher vom Rathause zu gehen, als bis sie 24 Personen, die tüchtigsten, die sie kennen, zum Rate: 12 für die nächste, 12 für das folgende Jahr gewählt zu haben; ferner auch noch 12 zu sich, welche 24 jährlich den Rat wählen, auch bei wichtigen Angelegenheiten vom Rate zugezogen werden sollten.
Im Jahre 1446 ward auch der „Oldermann“ als Vertreter der Gemeinde eingeführt. Die städtische Verwaltung bestand so in der Mitte des 15. Jahrhunderts aus dem „Rathsstuhle“, der aus 24 Mitgliedern, an deren Spitze 2 Bürgermeister, zusammengesetzt war, dem „Ständestuhle“, welchem die 12 Vertreter der Gemeinde und die der Ämter (6) und Gilden (6) angehörten, und dem gleichfalls 24 Mann starken „Oldermann“ (dies die „Vierundzwanzig“).
Alljährlich war die Stadtobrigkeit neu gewählt. Am 7. Januar und wenn dieser auf einen Sonntag fiel, am 8. Januar, früh 6 Uhr versammelten sich Ämter und Gilden auf ihren Amt- resp. Gildehäusern und wählten je 6, also in allem 12 Vertreter, die für das Jahr „zu Rathause“ gingen. Die Gemeinde aber, welche zu Amt und Gilde nicht gehörte, ernannte zu gleicher Zeit auf dem Rathause 12 Vertreter; beide zusammen bildeten den „24 Mann“. Dieser „24 Mann“ lutterte den neuen, 12 Mann starken Rat, welcher mit dem alten Rate den „Rathsstuhle“ bildete; der „Rathstuhl“ endlich ernannte aus der Bürgerschaft den „Oldermann“. So blieb es bis 1635. Jeder Bürger war verpflichtet, eine auf ihn gefallene Wahl anzunehmen, sonst mußte er die Stadt bei Sonnenschein auf Jahre meiden.
Nach der Einnahme der Stadt durch die evangelischen Truppen versuchte Herzog Georg, damit die vermeintlich dauernde Besitznahme vorbereitend, die Gerechtsame der Stadt zu beschränken. Mit Hilfe des Ratstuhls, den er in sein Interesse zu ziehen wusste, wurden wesentliche Änderungen durchzusetzen versucht, deren Prinzip war, es solle in Zukunft nicht mehr „von Unten nach Oben“ sondern von „Oben nach Unten“ geluttert werden. Nach langem, zähem Widerstand der Bürgerschaft einigte man sich 1637 allseitig dahin, dass die Mitglieder des Ratstuhls auf 12, des Oldermanns auf 12 und der 24 Mann auf 18 Personen herabgesetzt wurden.
Der neue „18 Mann“ ward zur Hälfte von der Gemeinde, zur anderen Hälfte von Amt und Gilden erwählt, so dass letztere abwechselnd 5 und 4 Vertreter ernennen. Der „Oldermann“ soll aus 12 Personen bestehen, und wird vom Rate in der Art ernannt, dass dieser auf jeder der 6 Bäuerschaften 2 Bürger bestimmte, die in Amt und Gilden, aber nicht in Ratsämtern sind. Der „18 Mann“ lutterte wie früher den Rat.
Als der Herzog Hand an die Gerechtsame des Ratsstuhles zu legen versuchte, verteidigte dieser sich energischer, als er die anderen Stühle geschützt hatte, daher sah der Gewalthaber von seinem Vorhaben ab.
Der westphälische Frieden beendete vorläufig die Bemühungen, das städtische Regiment zu ändern.
Im Jahre 1702 brach ein Aufstand unter der Bürgerschaft aus; sie verlangte vom Rat Rechnungsablegung und verändertes Regiment, setzte den Bürgermeister Dr. Albrecht ab und Assessor Behrens an dessen Stelle. Im nächsten Jahre kam ein allseitig befriedigender Rezess zu Stande.
Dieser Rezess von 1703 verschaffte der eigentlichen Bürgerschaft wieder ausgedehntere Rechte. Seit diesem Jahre bildeten 3 Abgeordnete der Ämter, 3 der Gilden und sechs der Gemeinde den „Ständestuhl“, dieser erwählte unmittelbar nach seiner Ernennung den „Ratsstuhl“, der aus 2 Bürgermeistern, 2 Riedemeistern und 8 Senatoren bestand. Der Ratsstuhl hatte die Ausübung der Justiz allein; ohne Zutun des Ständestuhles stellte er Ratspfand- und Ablagebriefe auf. Alle übrigen Gemeindesachen wurden von beiden Stühlen gemeinschaftlich behandelt. Bei Beschlussnahme über Religionssachen, Regierungsform, städtische Freiheiten und Gerechtsame, neue Steuern und Ähnliches, hatten die Mitglieder des Ständestuhles zuvor das Gutachten ihrer Wähler einzuholen. Sechs Kämmerer waren mit dem Stadthaushalte betraut.
Angelegenheiten, welche die gesamte Stadt, also Alt- und Neustadt betrafen, wurden in der „Samttrathssitzung“ verhandelt, an welcher 4 Ratsherren der Neustadt teilnahmen und welche per majora (mit Mehrheit) Beschlüsse fasste, die sogenannten Samtratschlüsse.
Die Bürger der Neustadt lutterten ihre Obrigkeit gleichfalls alljährlich am 4., bez. am 5. Januar, und zwar ernannten Amt, Gilde und Gemeinde 4 Vertreter, welche, wie auf der Altstadt, den aus 4 Gliedern bestehenden Rat wählten.
Als Hildesheim im Anfange dieses Jahrhunderts (19.) Provinzialstadt eines größeren Staates ward, wurden die Alt- und Neustadt völlig geeinigt, so daß nur noch der Name an das frühere Verhältnis erinnert, und wurde der Stadt auch die Dom- und Kreuzfreiheit, auf welche sich früher die Jurisdiktion der Stadt nicht erstreckte, in der Art zugefügt, daß ganz Hildesheim unter einer Obrigkeit stand.
Die Konstitution (Satzung) von 1815 bestimmte, daß die Stadt unter ein Stadtgericht und einen verwaltenden Magistrat – die Ernennung aller Mitglieder dieser Behörden erfolgte regierungsseitig – gestellt und für wichtige Verwaltungshandlungen dem Magistrate 9 von den Bäuerschaften zu wählende Vertreter zugeordnet wurden; die Mehrheit aller Stimmen entschied.
Eine neue Verfassungsurkunde erhielt die Stadt 1845; im ganzen blieben die bisherigen Einrichtungen bestehen, doch erhielten Magistrat und Bürgervorsteher das Recht, zu den Stellen des Gesammtmagistrats Personen vorzuschlagen und die Subalternstellen zu besetzen. Bis zum Jahre 1848 übte die Stadt durch ein Stadtgericht Zivilrechtspflege und bis 1858 die gesamte städtische Polizei selbständig aus. Gab sie jenes Recht im Interesse der allgemeinen Rechtspflege gern auf, so widersetzte sie sich entschieden, doch vorläufig ohne Erfolg, der Einführung einer unmittelbar der Regierung untergeordneten „königlichen Polizeidirektion“. Es ist dem Magistrate lediglich die beschränkte Gewerbs- und Handelspolizei, die Bau-, Wasser-, Feuer- und Armenpolizei verbleiben.
Nach der revidierten Städteordnung und dem Statute von 1858 besteht jetzt (1866) der Magistrat aus einem Bürgermeister, einem Syndikus, einem rechtskundigen und drei unbesoldeten, bürgerlichen Senatoren, deren zwei Handel- oder Gewerbetreibenden sein müssen. Die Stadtgemeinde wird im „Bürgervorsteher-Kollegium“ durch zwölf Bürger vertreten, deren mindestens acht Hausbesitzer sein müssen. Jeder der vier städtischen Wahlbezirke (in den Bezirken selbst haben die neun alten Bäuerschaften ihre Namen bewahrt) wählt drei Vertreter auf sechs Jahre, jede zwei Jahre einen.
In der zweiten Kammer der allgemeinen Ständeversammlung wird die Stadt durch einen Deputierten vertreten, welchen die Magistratspersonen, eine gleich große Anzahl Bürgervorsteher und ebensoviele von der Bürgerschaft gewählte Wahlmänner ernennen. Die Interessen der Stadt werden in den Provinzialständen des Fürstentums Hildesheim durch den jeweiligen Bürgermeister vertreten.
Text-Quelle: [15] O. Fischer: Führer durch Hildesheim; Gerstenbergsche Buchhandlung; Hildesheim 1866; Seite 23 - 26