Reliquien-Kästchen der heiligen Maria
Das Marienreliquiar "Heiligtum Unserer Lieben Frau" (Lipsanothek) ist ein historisch und künstlerisch einzigartiges Reliquiengefäß im Dommuseum. Tradition und Legende sehen in ihm jenes Reliquiar, das Kaiser Ludwig der Fromme und seine Begleitung einst im Wald vergaßen oder von einem Rosenstock nicht ablösen konnten und das so die Gründung des Hildesheimer Doms und Bistums im Jahr 815 bewirkte. So verkörpert es bis heute die geschichtliche Identität und Kontinuität des Bistums. Bei der Weihe oder Inthronisation eines neuen Bischofs von Hildesheim wird es diesem als besonderes Zeichen der Inbesitznahme der Diözese vom Vorgänger oder vom Diözesanadministrator feierlich überreicht.
Die silberne Reliquienkapsel ist der älteste Teil des Kunstwerks. Sie ist in die goldene Fassung entnehmbar eingefügt und wurde vermutlich im Mittelalter bei Prozessionen oder gefahrvollen Unternehmungen (so bei der Schlacht von Dinklar) vom Bischof um den Hals getragen. Die eigentümliche halbkreisartige, nach unten geöffnete Form der Kapsel ist ohne Vorbilder. Die Oberfläche ist symmetrisch mit eingravierten und in der Tiefe vergoldeten Ranken eines Lebensbaums bedeckt. Für diese Ornamente gibt es Parallelen aus dem frühen 9. Jahrhundert. Die Kapsel dürfte daher tatsächlich zu dieser frühen Zeit in der karolingischen Hofwerkstatt angefertigt worden sein. Bereits in den ältesten Schatzverzeichnissen der Domkirche wird sie erwähnt. Mit dem heiligen Inhalt und der kostbaren Kapsel hätte dann Ludwig der Fromme das von ihm gegründete Marienbistum ausgestattet und dem Schutz der Gottesmutter anvertraut.
Welche Reliquien das Gefäß birgt, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich gab die verlorene ursprüngliche Bodenplatte der Kapsel darüber Auskunft. Heute läuft über den Kamm der Kapsel eine Inschrift, die sich auf der Bodenplatte aus dem 14. Jahrhundert fortsetzt:
[C]OR[PO]RA S(an)C(t)ORV[M IN PACE] SEPULT[A] SV[NT]
(„Die Leiber der Heiligen sind in Frieden bestattet“, Sir 44,14)
Dieses Wort aus der Heiligenliturgie passt schlecht zu Maria, deren Leib nach katholischem Glauben nicht bestattet, sondern in den Himmel aufgenommen wurde, und von der nur Berührungsreliquien verehrt werden. Auch würde eine originale Inschrift Maria nicht einfach unter „den Heiligen“ subsumieren. Paläographische Eigenheiten erhärten die Annahme, dass die Inschrift erst gleichzeitig mit der neuen Bodenplatte angebracht wurde und dass diese zuvor zu einem anderen Reliquiar gehörte.
Jünger als die Silberkapsel sind auch die edelsteinbesetzte Goldbandfassung und der Fuß des Reliquiars. Dieser stammt wie die Bodenplatte der Kapsel vom Ende des 14., jene aus dem zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts.
Maße: H.: 28,6 cm (Gesamthöhe), 9,1 cm (Reliquienkapsel); Dm.: 15,8 cm (Fuß), 15,2 cm und 5,2 cm (ellipsenförmige Bodenplatte der Reliquienkapsel)
Text-Quelle:
Bildquelle:
Reliquien-Gefäß der hl. Mutter Maria, genannt: „Unser leven Frrouwen Hyligthum“ oder „Lipsanotheca mariana“
Unter den heiligen Geräten und altertümlichen Kunstschätzen, welche der Dom verwahrt, verdient das Reliquiengefäß der hl. Mutter Gottes zuerst beschrieben zu werden; denn gerade dieses Gefäß ist es, was Kaiser Ludwigs Kapelan im Jahre 814 auf der Jagd vergessen hatte.
Das Reliquiar zeigt die Figur eines Halbmondes und ruhte auf einem, im 13. Jahrhundert dazu verfertigten, silbernen Fuß, dessen Unterteil die Form von vier zusammengesetzten Quadranten hat. Ursprünglich war dasselbe ohne Fuß und wenn es bei Bittgängen vorgetragen werden sollte, wurde es mit einem silbernen Bande umgeben, an dem ein, mit den Worten: Ave Maria gratia plena bezeichneter, vergoldeter Riemen befestigt war, welchen der Bischof dann um den Hals hing, wenn er zu Pferde den feierlichen Zug eröffnete; später hielt man es aber für zweckmäßiger, das Gefäß auf einem Fußgestell zu befestigen.
Es schließt mehrere Heiligtümer von dem Welterlöser und der hl. Mutter Maria in sich, welche in drei Kristallzylindern verschlossen liegen. Seine Höhe beträgt 3 ¾ ″, die Länge 6 ¼ ″, die Breite 2 ⅓″ und wiegt 2 Pfd. 15 Lth. an beinahe feinem Silber.
Die Außenseiten des Reliquiars sind mit arabeskenartigen Punzierungen, welche vergoldet gewesen waren, ringsum ausgeschmückt. Auf der oberen abgerundeten Fläche sieht man eine Inschrift mit lateinischen Großbuchstaben, welche aber im Laufe der Zeit sehr vergriffen und dadurch unleserlich geworden sind; die unter dem Boden des Gefäßes eingravierten Worte lauten:
ET VIVENT NOMINA EORUM IN ETERNUM
(Und es werden leben die Namen derselben in Ewigkeit)
In dieser beschriebenen Form liegt das Reliquiar in einer beinahe 1″ überstehenden Kante, und ist durch zwei, ½ ″ breite Silberbänder, welche auf beiden Seiten an der Kante angebracht sind, aber inmitten auf der Oberfläche des Gefäßes zusammentreffen, vermittelst eines Silberstifts befestigt. Vom Boden desselben gehen vier Arme abwärts, welche in einem Schaft zusammenlaufen und das Gefäß tragen. In der Mitte des Schaftes befindet sich ein Knauf, aus welchem sechs Rauten giebelförmig mit Rebenverzierungen hervorspringen, deren Flächen mit den lateinischen Buchstaben M.R.A.I.H.S. (d.h. Maria-Jesus) bezeichnet sind. Der Fuß zeigt 12 Einfassungen. Die überstehende Kante und die beiden Silberbänder sind teils mit durchbrochenen, teils mit tief gravierten vergoldeten Arabesken nett geziert.
Das ganze Reliquiar misst, mit Einschluss des Fußgestelles, beinahe 10″ Höhe.
Das nun die Lipsanotheca mariana eben dieses Gefäß ist, welches der Fromme Kaiser dem ersten hildesheimischen Oberhirten Gunthar als immerwährendes Denkmal von Aulica (Elze) nach dem Orte Hildenesheim für seine Kirche gab, beruht nicht allein auf einer Legende, sondern es sprechen päpstliche Bullen und Breven, erzbischöfliche und bischöfliche Indulgenzbriefe und viele Dokumente aus verschiedenen Jahrhunderten einstimmig dafür.
In den ältesten Zeiten der Hildesheimer Kirche wurden von den Bischöfen zum Gedächtnisse der Stiftung des Bistums und zu ehren der hl. Maria, als Hauptpatronin des hiesigen Hochstiftes, jährlich mehrmals vom Dommünster aus nach einigen nah gelegenen Orten Prozessionen angestellt, denen nach einer gewissen Rangordnung die ganze Geistlichkeit und viele Laien beiwohnten. Der Bischof, angetan mit Pontifikal-Kleidern, eröffnete jedes Mal zu Fuße oder zu Pferde den feierlichen Zug und trug das an einem vergoldeten Riemen befestigte und ihm um den Hals gehängte Heiligtum der Mutter Maria vor sich. Der weit verbreitete Ruf von dem gedachte Heiligtume, zog nach und nach aus verschiedenen Diözesen Deutschlands und anderen Ländern mehrere Pilger hierher nach Marias geweihter Stätte, um ihr Andacht vor den Reliquien zu verrichten.
In der Folge wurden aber die Festlichkeiten der Bittgänge besonders noch dadurch gehoben, daß verschiedene hiesige und fremde Kirchenfürsten denjenigen von ihrem Diözesanen einen Ablass von zwanzig und mehreren Tagen erteilten, welche an den hier gehaltenen feierlichen Mutter-Gottes-Prozessionen mit Teil nehmen würden.
Den ersten derartigen Indulgenz-Brief erließ der aus dem Welfenstamme entsprossene hildesheimische Bischof Otto I. am 2. April 1275, in welchem er den frommen Gläubigen, die den jährlichen Prozessionen beiwohnen würden, einen Ablass von zwanzig Tagen zusagte. Den zweiten Indulgenz-Brief gab dessen zweiter Nachfolger, Heinrich II., aus dem Grafengeschlechte der von Woldenberg, am 13. Juni 1311. Den dritten schrieb der Metropolit Burchard von Magdeburg im Jahre 1312 und den vierten der wratislaviensische (breslauische) Bischof Heinrich im Jahre 1314 aus. Am Sonnabend in der Osterwoche des Jahres 1391 erteilte der hiesige Bischof Gerard aus gleicher Absicht den Gläubigern eine Ablass von vierzig Tagen und den letzten Indulgenz-Brief stellte wahrscheinlich der päpstliche Legat und Kardinal Nicolaus von Cisa im jahre 1451 gleichfalls zu dem gedachten Zwecke aus.
So wie manche den äußeren Kultus betreffenden Gebräuchen in der katholischen Kirche im Laufe der Zeit abgeschafft worden sind, weil sie entweder von unkundigen Menschen gemißdeutet und folglich zu Missbräuchen Anlass geben mußten, oder weil sie dem Zwecke der Kirche nicht mehr entsprachen; so hat man wahrscheinlich aus einem der gedachten Gründen die hier jährlich gehaltenen großen Bittgänge im 16. Jahrhundert eingestellt.
Das Domkapitel ordnete dafür mit Genehmigung des Bischofs die sonn- und festtäglichen Prozessionen an, welche, beiläufig bemerkt, nur vor der Domgeistlichkeit gehalten werden sollten; in diesen mußte aber der pontificierende Priester, laut eines neuentworfenen Kapitel-Status, jedes Mal die Marien-Reliquie als Denkmal der Stiftung (Verlegung) des Bistums vorangetragen.
Diese Prozessionen sind von dem Domklerus alter Stiftung bis zum Jahre 1828 – dem Installationsjahr des neuen Domkapitels – gehalten worden.
Der zweite Beleg für die Echtheit des heiligen Gefäßes ergibt sich aus den domstiftischen Archivalien und verschiedenen authentischen Handschriften des 12., 13., 14., 15. Und 16. Jahrhunderts. Denn in diesen findet sich bewährt, daß Bischöfe, Domkapitularherren und andere Geistliche vor dem Reliquiar den Eid leisteten, Schenkungen bekräftigten ließen, ihre Willensmeinungen und wichtigen Verhandlungen aussprachen und entweder selbst aufzeichneten oder aufzeichnen ließen.
Wenn der neuerwählte Bischof auf dem neben der Domkirche gelegenen Rittersaal oder in der Kapitelstube den Eid abgelegt hatte, darauf von dem Domklerus zum hohen Altar geführt und zum Zeichen der wirklichen körperlichen Besitznahme auf den Altar gesetzt war, gab der Domdechant, als jedesmaliger Präsident des Kapitels, dem Hochgefeierten die Reliquie in die Hände und hielt sie so lange vor sich, bis der ambrosianische Lobgesang abgesungen war. Der Bischof küsste sodann das heilige Gefäß und gab es dem Domdechanten ehrerbietig wieder zurück. –
Den Akt dieser Huldigung findet man in alten Handschriften.
Als den dritten Beweis, sowohl für die bereits erörterten Veranlassungen zur Verlegung des Hochstiftes, als auch für die Echtheit des Reliquiars, führe ich hier in nachstehenden Zeilen diejenigen Worte an, welche auf dem in dem heiligen Gefäße niedergelegte Pergament-Dokumentes verzeichnet stehen (auf Latein):
„Dieses Reliquien-Behältnis ist wegen der Verlegung der Kathedralkirche von Elze (Aulica) nach dem Orte der Stadt Hildesheim, deshalb bei dieser Kirche von Anfange bis auf die gegenwärtigen Zeiten aufs Höchste verehrt worden.
Als dasselbe im Jahre 1680 in der Woche nach dem Sonntage Septuagesima entwendet und endlich nach Verlauf von einigen Wochen, jedoch seiner Heiligtümer beraubt, wieder erhalten worden war, wurde es mit Sorgfalt und auf Kosten des Hochwürdigen Domkapitels wieder hergestellt und in dasselbe die gegenwärtig vorhandenen Reliquien nach der Anzahl und Quantität der verlorenen, insoweit man es wissen und tun konnte, hineingelegt.
Die hinzukommenden Heiligtümer sind: vom Blute des Herrn; vom heiligen Kreuzholz; vom Grabe des Erlösers; von den Haaren, Kleidern, gewande und vom Ruhelager der heiligen Maria in Josaphat.
Die Echtheit der Reliquien und der Gefäße, denen sie entnommen waren, beurkundet das ehrwürdige Altertum. Geschehen im Jahre 1680 den 28. Mai a. St. Unter dem Episkopate Maximilian Heinrichs, eines bayerischen Herzogs, dem Domprobst Franz Egon, Landgraf in Fürstenberg, dem Dechant Jobst Edmund von Brabeck und dem Scholaster Hermann Werner von Metternich.“
Nachträglich stehe hier noch über das Reliquien folgende höchst merkwürdige Notiz, welche den Hildesheimischen Annalen entlehnt sind:
Als sich im Jahre 1367 der Bischof Gerard gegen den braunschweigischen Herzog Magnus Torquatus und seine Verbündete zum Kampfe rüsten mußte, weil diese es wagten des Hochstifts Dorfbewohner mit Brandschatzung und Plünderungen hart zu bedrücken, versammelte er am 3. September des Jahres sein kleines Völkchen um sich und zog hiermit dem Feinde entgegen. Der Kampf begann beiderseits mit Erbitterung, auf dem Felde zwischen den Dörfern Farmsen und Dinklar (siehe: Schlacht bei Dinklar), und das Glück des Sieges schien sich auf die Seite der verbündeten Krieger hinzuneigen; als aber der Bischof plötzlich das Heiligtum der Hochbegnadigten aus seinem weiten Mawen (Ärmel) hervorzog und diese seinen Mannes unter kräftiger Anrede vorzeigte, begeisterte er dieselben mit solchem Heldenmut, daß sie, über einen ihnen an Streitkräften dreimal überlegenen Feind, einen glänzenden Sieg erfochten.
Textquelle: J. M. Kratz: „Der Dom zu Hildesheim“; Commission der Gerstenbergischen Buchhandlung; Hildesheim 1840; Seite 3-12
genannt: Hierotheca B. V. Mariae
Es hat die Gestalt eines kleinen Turms und ist 7 ¼″ hoch, 5 ½″ breit und 2″ tief.
Die Bestandteile dieses Gefäßes sind Eichenholz, vergoldetes Silber- und Kupferblech.
Die Vorderseite ist mit einem in Silber getriebenen Bildgeziert, welches die hl. Maria als Königin darstellt, wie sie auf der von einer Schlange umwundenen Weltkugel steht, auf dem rechten Arm das Jesuskind und in der Linken das Zepter tragend. Dieses Bildwerk saß, nach einem Verzeichnis aus dem 17. Jh. auf einer roten Tafel.
Sie ist mit 19 Einfassungen rings umgeben, in welchen sich Kristalle und Edelsteine, und unter letzteren zwei Karneole mit eingegrabenen Figuren befinden.
Die Rückseite, welche ihre alte Verzierung noch zeigt, (denn das vordere Bildwerk ist vom Jahre 1597), ist unten mit vergoldetem Kupfer, oben aber mit vergoldetem Silberblech beschlagen. Hier sieht man rechts in getriebener Arbeit den heiligen Eustasius, wie die Beischrift sagt, der auf einem Pferd sitzend das Jagdhorn bläst; links einen Löwen, auf dessen Rücken sich ein Lindwurm bäumt, und zwischen den durch Bögen (Medaillons) abgeteilten Vorstellungen die französische Lilie (?). Unter dem Boden des Gefäßes sind folgende Worte mit lateinischen Buchstaben eingegraben
RELIQ. S. MARIAE. S. CANCII. M.
SC†. COSME. SLC. ANSBETTI. EOI.
DAMIANI. S. PANCRATII. MR.
Dieses hl. Marien-Kästchen wurde ehemals von dem assistierenden Subdiakon jedes Mal in der sonntäglichen Prozession getragen.
Textquelle: J. M. Kratz: „Der Dom zu Hildesheim und seine…“; Gerstenbergische Buchhandlung; Hildesheim 1840; Seite 16f
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