[2] Das von einem griechischem Meister gearbeitete, kreuzförmige Reliquiar folgte bei Prozessionen dem Heiligtum der Heiligen Jungfrau Maria und wurde vermittelst einer Seidenschnur jedes Mal dem pontificirenden Bischof oder Domherrnpriester, wenn er bei Prozessionen das Erstere trug, um den Hals gehängt. Der allgemeinen Überlieferung zufolge, verehrte Kaiser Ludwig dieses Kreuz der hiesigen Mutterkirche, und es fand sich so, wie jenes Gefäß, unter den heiligen Geräten seiner Hofkapelle.
Das aufklappbare Enkolpion, mit Reliaquieninhalt, ist von feinem Silber verfertigt, hat eine Länge von 4 ¾ ″, eine Breite von 4 ¼″ und wiegt 18 ⅝ Loth.
Auf beiden Seiten ist es mit einer, ⅙″ breiten filigranähnlichen Kante umlegt und mit alten verzerrten Konterfeiten in griechischem Kostüm und mit altgriechischen Inschriften verziert, welche noch einige Spuren von Email zurückgelassen haben.
Die Vorderseite
[2] Auf der anderen Seite sieht man die Kreuzigung. Christus hängt am Kreuze; er wirft mit geneigtem Haupte, umstrahlt vom Kreuznimbus**, seine Blicke nach der heiligen Mutter Maria hin. Der Leichnam Christi ist nackt, mit Ausnahme des Schamtuches; jeder Fuß besonders angenagelt (= die eigentliche griechische Form), ruhet auf einem breiten Fußbrett, unter welchem ein Totenkopf liegt, und über seinem Haupte sieht man die Inschrift: ICXC, d.i. Christus.
Unter dem Kreuze rechts steht Maria. Sie zeigt, hinblickend zu ihrem Sohn, die innigste Teilnahme durch den Ausdruck des tiefsten Schmerzes; links weilt Johannes, voll Ergebung sein trauerndes Antlitz zu der Mutter hinwendend; er trägt in seiner Linken ein Buch. Die vier abgerundeten Kreuzenden tragen das Brustbild der vier Erzengel, oben Uriel, unten Raphael, neben Maria sieht man den Michael, und neben Johannes den Gabriel. Alle vier Erzengelgestalten tragen in der Linken eine mit einem Kreuz bezeichnete Kugel; Uriel und Raphael insbesondere, halten in ihrer Rechten Leidenswerkzeuge (?); der Erste einen Schwamm, der andere eine Speer oder ein Kreuz.
** das Haupt des Erlösers (auch das des Gottvaters) umgibt jedes Mal, zur Andeutung seiner höheren Natur, eine Glorie oder ein Nimbus, worin gewöhnlich zur Auszeichnung vor anderen heiligen Personen, denen man später auch einen Nimbus oder Heiligenschein gab, das heilbringende Zeichen des Kreuzes angebracht ist.
Die Rückseite
[1] Auf der Rückseite drei stehende Gestalten: Der Prophet Elias zwischen den hl. Bischöfen Basilius d. Gr. und Hypatius von Gangra, umgeben von den Büsten der Apostel Petrus, Paulus, Johannes und Matthäus.
[2] Die eine Seite stellt wahrscheinlich Christus dar in der Haltung eines Redenden oder Lehrenden; mit der Linken hält er sein langes Gewand, die Rechte ist halb geschlossen – zum Segnen – erhoben. Über seinem mit Nimbus umgebenem Haupte liest man die kaum noch leserlichen Wort in Griechisch:
„Der Vater hat sich meiner erbarmt.“
Ihm zur Rechten steht Petrus, zur Linken Paulus; beide tragen in der linken Hand ein Buch, die halb geschlossene Rechte halten sie etwas erhoben*. An den vier abgerundeten Kreuzenden sieht man das Brustbild eines jeden Evangelisten; oben Johannes, unten Matthäus, jeden mit aufgehobener Rechte und in der Linken ein Buch haltend; neben Paulus den Lucas, mit aufgehobener Rechte und in der Linken ein Buch; neben Petrus den Markus, dieser hält mit beiden Händen ein geöffnetes Buch.
*Da die mittelste Figur mit keinem Kreuz-Nimbus geziert ist, der doch bei Darstellungen von Christus und Gottvater überall gesehen wird, bin ich auf die Vermutung gekommen, diese drei Figuren auch wohl mit dem Namen Chrysostomos, Gregorius und Vasilios bezeichnen können; denn eben diese drei Heiligen pflegen in der griechischen Kirche gewöhnlich neben einander dargestellt zu sein.
Die Innenseiten
[2] Inwendig sieht man auf der einen Seite Konstantin, den großen Kaiser und dessen Mutter Helena, wie die Beischrift sagt, beide in langen griechischen Gewändern; auf ihren mit Glorie umstrahlten Häuptern tragen sie Fürstenkronen, und umfassen mit der Rechten und Linken ein zwischen ihnen stehendes Kreuz.
Auf der anderen Seite befindet sich eine kleine kreuzförmige Kapsel, in der Reliquien ruhen nebst einer kleinen Schriftrolle.
Unverkennbar ist dieses Reliquiar eins von jenen heiligen Gefäßen, welche Ludwige Vater von dem jerusalemschen Patriarchen Johann V. im Jahre 799 durch einen morgenländischen Mönch geschenkt erhielt.
[2] Für das hohe Alter dieses griechischen Kunstwerks spricht ebenso die äußere Gestaltung des Kreuzes, wie der Ausdruck in den tief eingegrabenen Figuren und die alten griechischen Buchstabenformen, in denen man noch Spuren von Email findet. Die an den Seiten ersichtlichen Inschriften sind zu verzerrt, als das man Näheres darüber mitteilen könnte. –
Dieses uralte Kreuz ist von der hildesheimischen Kirche seit ihrer Stiftung immer sehr hoch geschätzt und laut der Schriftrolle hatte es der pontificirenden Priester bei feierlichen Bittgängen an einer Silberkette um den Hals hängen.
Textquellen: [1] H. Engfer: "Dr Hildesheimer Domschatz"; Verlag A. Lax; Hildesheim 1969; Seite 16
[2] J. M. Kratz: „Der Dom zu Hildesheim und seine…“; Gerstenbergische Buchhandlung; Hildesheim 1840; Seite 12f
Bildquellen: V. H. Elbern: „Dom und Domschatz in Hildesheim“; die Blauen Bücher; 1991; Seite 19