Nächst dem Trinitatishospital verdient in erster Linie aus der gotischen Periode das im Jahr 1482 erbaute ehemalige Kramergildehaus hervorgehoben zu werden.
An Gilden besaß Hildesheim derzeit fünf: die der Wollenweber, Kramer, Kürschner, Schmiede und Schneider; sie waren mit besonderen Rechten ausgestattet und besaßen nach den Ämtern die einflussreichste Stellung innerhalb der Bürgerschaft; dieser Bedeutung entsprechend errichteten sie besondere Gildehäuser, die gewissermaßen das Ansehen der Gilde zu repräsentieren hatten. Solche Gebäude, welche ein sprechendes Zeugnis für den damaligen Reichtum der betreffenden Gilden ablegen, wurden nach Kräften mit großem Aufwande aufgeführt und so ist es denn eigentlich auch selbstverständlich, daß das Kramergildehaus in seiner früheren Gestalt zu den hervorragenderen Bauten der Stadt zählen musste.
Gegenwärtig (1881) besteht nur noch seine Fassade nach dem Andreasplatze und auch diese ist leider verstümmelt genug; sie spricht beredter (gewandt), als es in Worten je geschehen kann, wie es mit dem Geschmack und dem Kunstverständnis unserer Zeit bestellt ist. Die Kopfbänder am Zwischengeschoß sind bis auf eins, das seine Erhaltung wohl der es bedeckenden Traufrinne zu danken hat, entfernt, die darüber liegende reich geschnitzte Schwelle ist bis zur Hälfte mit Brettern vernagelt und den Kopfbändern am Dachgeschosse, welchen auch kräftig und gut geschnitzte Figuren herausgearbeitet sind, ist es ebenso gegangen; auch sie sind an ihrem unteren Ende durch Bretter verdeckt, nur ihr oberes Ende blickt fragmentenmäßig aus der erbärmlichen Verhüllung hervor, welche auf der Abbildung zu zeichnen wir uns nicht haben entschließen können; ebenso haben wir das Erdgeschoß in seinem früheren Zustande dargestellt. Das Innere des Gebäudes ist vollständig umgeändert worden, wir haben uns daher nicht weiter mit demselben zu befassen, sondern nur der Außenseite unserer Aufmerksamkeit zu schenken.
Das Kramergildehaus schließt oben mit einem steilansteigenden Giebel ab und gehört somit zu den wenigen Ausnahmen, welche wir von der üblichen Bauweise, Satteldächer in der Richtung der Straßenflucht laufen zu lassen, aufzuweisen haben; es hat nur eine geringe Breite bei desto größerer Tiefe; zwei Stockwerke kragen über den mit Zwischenstock versehenen Unterbau heraus. Die Ständer sind schlicht, die mit ihren verbundenen Kopfbänder hingegen wieder, wie bei dem Trinitatishospital, mit kräftig geschnitzten Figuren geziert, dabei sind sie eckig ausgeschnitten und weder oben noch unten mit Stäben versehen; die Figuren stehen auf viereckigen Konsolen.
An der untersten Reihe ist, wie schon erwähnt, nur noch ein Kopfband vorhanden, den Patron der gegenüber liegenden Kirche, den Apostel Andreas mit schiefem Kreuz darstellend; die anderen Kopfbänder sind vor einigen Jahrzehnten beseitigt worden. Die darüber befindliche Reihe beginnt links ein Pilger mit langem Bart ohne weitere Attribute, sodass derselbe schwer zu bestimmen ist; ihm zunächst steht Christophorus, das Christuskind tragend; dann folgt eine langbärtige Gestallt mit einer Reisetasche und einer Muschel in der Hand, den Apostel Jakobus major vorstellend; auf dem vierten Kopfbande ist der heilige Georg, wie er den unter seinen Füßen liegenden Drachen besiegt; er ist vollständig geharnischt und eine Sturmhaube bedeckt ihm das halbe Gesicht, mit seinem Schild hält er den Drachen nieder, in der rechten Hand schwingt er ein kurzes Schwert, das flach auf dem oberen Teil des Kopfbandes liegt und diesem herausgeschnitten ist; seine Darstellung ist hier bei weitem lebendiger, als an dem Trinitatishospital. Dem fünften Kopfband ist die heilige Barbara mit einem neben ihr stehenden Turm herausgearbeitet.
Von den Figuren der oberen Reihe ist die auf dem ersten Kopfband links ohne Attribut und deshalb nicht zu bestimmen; auf dem zweiten Kopfband ist eine kurzbärtige Gestalt mit einem Kirchenmodell, den heiligen Nikolaus von Bari vorstellend, der als Schutzpatron der Schiffer auch für den Handelsstand ein wichtiger Heiliger sein mußte. Auf dem mittleren Kopfband ist Paulus mit einem Schwert; diesem folgt der Apostel Johannes mit einem Kelch und schließlich Petrus mit einem Schlüssel. Die Heiligenfiguren sind durchweg sehr gut geschnitzt und in der Technik, namentlich im Gesichtsausdruck und der Gewandung, denen des Trinitatishospitals überlegen.
Betreffs ihrer Wahl darf man wohl auch mit Sicherheit annehmen, daß in erster Linie solche zur Darstellung gebracht wurden, die irgendwelchen Beziehungen zu den Interessen der Kramergilde standen.
Die über den Kopfbändern herausspringenden Balkenköpfe sind teils mit einem breiten Rundstab auf der unteren Kante versehen (siehe Tafel X), teils schließen sie mit einer ihre ganze Höhe ausschneidenden Hohlkehle die mit Fratzen und anderen Köpfen ausgefüllt wird: jene sind aber nicht etwa angesetzt, sondern aus den Balkenenden herausgeschnitzt; wir haben auf Tafel X drei solcher Köpfe wiedergegeben, der eine scheint einer Nonne anzugehören, die anderen beiden suchen um die Wette ihre Zungen möglichst weit herauszustrecken.
Besonders eigenartig sind die Schwellen gebildet; die Satzschwelle des untern, vorspringenden Stockwerks bedeckt ein plastisch gehaltener Laubstab in vorzüglicher Ausführung (siehe Bild). Die Kanten der sich um einen runden Stab windenden Ranke treten scharf aus der Fläche, die Blätter zeigen die in jener Zeit so beliebten kugelförmigen, den Galläpfeln nachgebildeten Erhabenheiten. Nicht minder wirkungsvoll ist die Schwelle an dem oberen Geschoß gehalten; auf quadratischen, etwas eingeflachten Feldern befinden sich Schilder mit verschiedenen, teilweise sich wiederholenden Wappen ausgefüllt: auf Tafel X haben wir einen Teil dieser Schwelle, in Verbindung mit dem darunter befindlichen ersten und vierten Kopfband, dargestellt. Eine ähnliche Schwelle hat hier nur noch ein benachbartes Haus, Andreasplatz Nr. 439, aufzuweisen, an welchem die Wappenschilder nur etwas weiter auseinanderliegen.
Einen anderen seltenen Schmuck hat das Kramergildehaus in der Umfassung einer, an seiner linken Seite angebrachten spitzbogigen Tür, die vermutlich zu einer früher dort aufgestellten Waage führte; wir haben sie zu unserer Eingangs angebrachten Initial verwandt. In einem etwas tiefer liegenden Feld ist eine halbe Figur, welche wahrscheinlich einen Kramer vorstellen sollte; mit dem rechten Arm weist sie nach einem aufgehängten, mit der Zunge genau einspielenden Waage, in der anderen Hand hält sie ein sich noch über den benachbarten Ständer erstreckendes Band, auf welchem die Worte eingeschnitten sind:
„weget. recht. un. gelike. so. wertet. gi. salich. un. rike.“
Die Figur bekräftigt diesen Spruch durch die schwurähnliche Haltung ihrer Hand.