von Walther Tuckermann
Der Vorstand der gewerblichen Genossenschaften im Mittelalter
Die Vollgenossen der Zunft im Mittelalter
Schutzgenossen der Zunft
In der älteren Zeit erfahren wir über die Gliederung der Zunft recht wenig. Erst die zahlreicher überlieferten Urkunden des 14. Jahrhunderts geben uns Aufklärung und lassen folgende Grundgedanken der Hildesheimer Zunftorganisation erkennen.
Den Vorstand der gewerblichen Genossenschaften bilden durchweg die Aelterleute, deren Amt die mannigfaltigsten Bezeichnungen führt („oldermann“, meist im Plural „olderlude“, „werkmester“, „mesterman“, „gildemester“, „magister“, „senator“).
Die Zahl der Aelterleute war verschieden: es gibt Zünfte, die einen Vorsteher, andere die vier Aelterleute haben. Bei mehreren Verbänden, so bei den bischöflichen Ämtern, ist ihre Zahl bei der Lückenhaftigkeit der Überlieferung überhaupt nicht bekannt.
Die Wahl der Aelterleute wird überwiegend von den selbständigen Meistern betätigt. Nur bei einigen untergeordneten Verbänden beobachten wir ihre Konstituierung durch den Rat, so bei den Hut- und Filzmachern und bei den Gärtnern. In der Kürschnergilde wurde in der älteren Periode der senator vom Rat ernannt, in der jüngeren, als die Zunft zwei Aelterleute besaß, teilen sich Rat und Gilde in das Ernennungsrecht. Die Aelterleute werden meistens auf ein Jahr ernannt. Zuweilen fungieren die Vorsteher des abgelaufenen Jahres, die olden olderlude, noch ein zweites Jahr im Sinne von Beisitzern, so bei Schneidern und Kürschnern.
Die von der Gilde gewählten Aelterleute hatten die Bestätigung beim dem Rat einzuholen. Über die Verhältnisse der bischöflichen Ämter sind wir weniger orientiert. (Es scheint indes, daß diese sich einer größeren Freiheit erfreuten als die ratsherrlichen Gilden, indem sie bei der Ernennung der Aelterleute unabhängiger und anscheinend nicht an obrigkeitlichen Machtausfluß, wie er in dem Bestätigungsrecht zum Ausdruck kommt, gebunden sind). Bei dieser Gelegenheit legten sie den Eid ab, ihr Amt nach bestem Können und Vermögen zu verwalten. Den Meistermännern der Schmiede wird bei der Neuordnung der Gilde im Jahre 1423 Unparteilichkeit der Amtsführung zur Pflicht gemacht. Den Aelterleuten liegt vor allem das Aufsichtsrecht über die Arbeit der Meister, die Warenschau, ob. In ihren Händen befindet sich die Prüfung derjenigen, welche sich um die selbständige Ausübung des Gewerbes bemühen; nur mit ihrem Einvernehmen dürfen die Lehrlinge bei den Meistern eingestellt werden. Häufig verpflichtet der Rat die Aelterleute zur prompten Einlieferung der ihm zustehenden Bußgelder und Meistergebühren.
Mit der größer werdenden Gewerbetätigkeit schuf das Bedürfnis der Zeit das Institut der Geschworenen, welche den Aelterleuten zur Seite stehen und namentlich auf tadellose und einwandfreie Arbeit der Meister ihr Augenwerk richten. So in der Schmiedegilde. Im Schuhmacher-Gerberamt unterstützen den Zunftvorsteher vier Geschworene. Hier und da kommen variierende Einrichtungen vor, welche aber im Wesentlichen mit den Geschworenenämtern übereinstimmen. So finden wir bei den Wollenwebern-Tuchmachern die „Umgänger“( Kontrolleure) (ummegengere), deren Tätigkeit ihr Name erläutert.
Die Vollgenossen der Zunft, von welchen diese in erster Linie gebildet wird, sind die Meister. Wenn auch in älterer Zeit die Zulassung Unfreier zur Ausübung eines Gewerbes nicht unwahrscheinlich ist, so finden wir doch im ausgebildeten Zunftwesen des 14. Jahrhunderts allenthalben freie Abstammung als Grundbedingung für den Eintritt des jungen Meisters in Gilde und Amt. Hand in Hand mit dieser Bestimmung geht die Forderung ehelicher Geburt. Das der Petent Deutscher sein mußte, wird in den Urkunden nicht verlangt, ist aber als selbstverständlich vorauszusetzen, wennn wir bedenken, daß in dem von starker wendischer Nachbarstadt, dem hannoverisch-mecklenburgischem „Wendland“, umgebenen Lüneburg Deutsche Nationalität des Meisters erforderlich war. Außerdem wissen wir, daß in zahlreichen Städten des Ostens, inmitten der Slavenflut, das Handwerk exklusiv deutsch war. Als eine weitere Bedingung wurde an die Mitgliedschaft der Zunft makelloser Ruf ganz allgemein gebunden, wie auch die natürliche Forderung der gewerblichen Tüchtigkeit, auf daß er „vor eynen mester varen“ kann.
Schon früh treten zu diesen Bestimmungen allgemeiner Natur andere, welche den Kreis der aufzunehmenden Kandidaten enger ziehen. Eine Reihe von Verbänden, die Knochenhauer am kleinen Markt bereits 1388, verlangt nämlich die Schließung der Zunft für Söhne der Leinenweber, Müller, Schäfer. Eine solche Verordnung wundert uns umso mehr, als selbst in den niedergehenden Zeiten doch selten die Müller und Leinenweber von dem Eintritt in die gewerblichen Korporation ausgeschlossen wurden. Es scheint also, die Sache von der günstigen Seite betrachtet, bereits im 14. Jahrhundert ein starker Zudrang zu einigen Zünften bestanden zu haben, dem eben die Größe des Arbeitsfeldes in der mäßig großen Territorialstadt nicht entsprach.
Doppelzünftigkeit widersprach ja im Allgemeinen den Grundgedanken der Zunft. Indes finden wir nirgends ein direktes Verbot derselben ausgesprochen. Eine Beschränkung scheint bei den Tuchmachern bestanden zu haben, die aber später fortfiel. Besonders im 15. Jahrhundert wurde es beliebt, die Mitgliedschaft mehrerer Gilden zu besitzen. So wissen wir von Henning Brandis, dem Hildesheimer Chronisten der Wende des 15. und 16. Jahrhunderts, daß er Anteil an nicht weniger als vier Gewerben hatte, am Knochenhauerhandwerk, am Gewandschnitt, Braugewerbe und an der Wollenweberei.
War der Bewerber noch nicht Bürger, so mußte er das Bürgerschaftsrecht erlangen. Allgemein war die Zustimmung des Verbandes, dem der Kandidat angehören wollte, nötig. Dazu war bei den Gilden noch das Einverständnis des Rates erforderlich. Für die Erlaubnis, das Gewerbe ausüben zu dürfen, mußte dem Rat ein Meistergeld entrichtet werden, das bei den einzelnen Gilden verschieden hoch war. Ein solches finden wir bei den bischöflichen Ämtern nicht; nur die Leinenweber mußten dem Stadtherrn einen jährlichen Zins entrichten. Beide Korporationsarten sind aber die mancherlei Abgaben an die Zunft gemeinsam, von denen ein kleiner Teil als Sporteln (Geschenk) den Aelterleuten zufällt. Sie mußten teils in barer Münze, teils in Wachs, das bei den zahlreichen religiösen Veranstaltungen seine Verwendung fand, entrichtet werden. Daneben hatten die Neueintretenden noch mancherlei Verpflichtungen einzugehen. Waren alle Bedingungen, die an die Aufnahme gestellt wurden, erfüllt, so leistete das neue Mitglied einen Eid, den Zunftvorstehern zu gehorchen, die Zunftstatuten zu beobachten und die Ehre des Handwerks hochzuhalten. Im Übrigen waltet in der Abfassung der Eide eine große Mannigfaltigkeit ob. Die Knochenhauer am großen Markt leisteten einen Eid, keine „geschwätzigen Reden“ zu führen. Den Gilden, welche in einem näheren Konnex zum Rat standen, wurde das Wohl der Stadt noch besonders ans Herz gelegt.
Die ursprüngliche Idee der Zunft war zweifellos die, jedem Tüchtigen ohne Unterschied, der den billigen Anforderungen genügte, den Zutritt zum Verband und hiermit das Recht auf Arbeit zu gewähren. Wir lernen schon eine Abweichung von diesem Grundprinzip kennen. Sehr bald macht sich ein weiteres Abirren von dem ursprünglichen Ziele geltend. Die älteren Quellen kennen keinen Vorzug, den die in der Zunft geborenen Söhne genießen. Aber schon seit dem 14. Jahrhundert werden die Söhne der Meister privilegiert, indem sie kein oder nur ein geringes Eintrittsgeld zu bezahlen brauchen. Diejenigen, welche die Tochter eines Meisters heirateten, konnten unter ähnlichen leichteren Bedingungen den Zugang zur Zunft erlangen.
Schutzgenossen der Zunft sind Lehrling und Geselle.
Als unselbständige Glieder unterstanden sie der Aufsicht der Zunft und der Meister. Durchweg unverheiratet wohnten sie bei ihrem Meistern. In der älteren Zeit bewegen sie sich nicht in einem Gegensatz zu diesen, sondern sie bildeten eine jüngere abhängige Arbeiterschaft, die nach Vollendung der Lehr- und Dienstzeit Anspruch auf die Meisterrechte hat. Das Quellenmaterial des bei weitem größten Zeitraumes, welchen unsere Darstellung umfasst, hält Lehrling und Geselle nicht auseinander. Erst eine Urkunde von 1420 erwähnt ausdrücklich den Begriff des „lerjunghen“. Aber auch sonst fließen die Unterlagen zu unserer Darstellung spärlich. So erhalten wir aus der interessanten Urkunde des Schuhmacheramtes vom Jahre 1328 überhaupt die ersten, wenn auch keineswegs befriedigenden Aufschlüsse über die Stellung der dienenden Klassen im gewerblichen Leben.
An den Lehrling (junge, lerjunge) werden hinsichtlich seiner Herkunft und seines Rufes zweifellos dieselben Bedingungen gestellt worden sein wie an den Meister, dessen Platz einzunehmen er ja später berechtigt war. Ein Kürschnerstatut verlangte, daß der aufzunehmende Lehrling „unses werkes werdich sei“. Bei verschiedenen Verbänden mußte der Junge dem Meister, in dessen Lehre er eintreten wollte, ein Lehrgeld entrichten, so bei den Gerbern ein Pfund, bei den Schuhmachern 60 Schillinge. Dazu kamen Abgaben an die Gilde, bzw. an die Vorsteher derselben. So entrichten die Lehrlinge der Schmiede den Ae(O-)lterleuten 2 Schillinge, die der Kürschner einen sowie der Gilde zum Lichterfonds drei. Eine Abgabe zur Unterhaltung der Kerzen wird ferner den Lehrlingen der Riemenschneider, Harnischmacher und Handschuhmacher zur Pflicht gemacht. Teilweise, so im Gerber-Schuhmacheramt, werden die Söhne der Handwerker bei der Aufnahme bevorzugt. Die Dauer der Lehrzeit ist uns nur von den Kürschnern bekannt: dort betrug sie drei Jahre. Es wurde den Meistern eingeschärft, während dieser Zeit den Jungen vor neye knecht bereden zu wollen. Diese wenigen Notizen müssen genügen, um den Charakter des Hildesheimer Lehrlingswesens zu kennzeichnen.
Der Geselle wird in den Urkunden servus, knecht, knape genannt; die uns geläufige Bezeichnung ist ihnen fremd.
Die Zunftstatuten ordnen vor allem das Strafrecht des Meisters, das diesem über Lehrlinge und Gesellen zusteht. So bekundet eine Rechtsbelehrung der Bäcker an ihre Werkgenossen zu Hannover, daß die Bäckerknechte und die molenhelpere, welche sich unehrliche Handlungen zu Schulden kommen lassen, z.B. Kleie entwenden, aus dem Dienstverhältnis entlassen werden. Ohne Erlaubnis feiernde Gesellen trifft die Strafe der Ausschließung auf ein Jahr. Allgemein wurde auch das unberechtigte Entlaufen aus dem Dienste vor der vertragsmäßig verflossenen Zeit mit strenge geahndet. Eine Verordnung vom Jahre 1379, die in das städtische bok der bedechnisse eingetragen wurde, bestimmt, daß den Knecht, der seinem Herrn entläuft, innerhalb eines Jahres niemand „halten, hausen oder hegen“ darf.
Die strenge Meisterzucht mag auch in Hildesheim wie in anderen Städten die Veranlassung gewesen sein, daß die Gesellen scharenweise den Dienst ihres Herrn verließen. So im Jahre 1451 die Schmiedeknechte. Die Zahl der Flüchtlingen muß beträchtlich gewesen sein, so daß die Meister einen teilweisen Ausfall ihres Erwerbes befürchteten. Wir hören nämlich nicht von einem über die Pflichtvergessenen gesprochenen Verdikt – im Gegenteil: der Rat legt sich ins Mittel und bittet fürsorglich die Entwichenen, in ore wark unde denst zurückzukehren, widrigenfalls ihnen der Zugang zum Gewerbe für immer verschlossen bliebe. Die Gesellen der Schmiede scheinen überhaupt ein aufsässiges Element gewesen zu sein. Schon 1412 waren ihrer welche nach Braunschweig flohen. Im Jahre 1496 endlich kündigten die Gesellen ihren Meistern den Gehorsam auf. Erst durch Vermittlung zweier Ratsherren wurde ein leidliches Verhältnis wieder angebahnt.
Leider ist auch das Material, das uns zur Charakterisierung dient, nicht groß. Indes können manche Notizen der Stadtrechnung dazu dienen, die fehlenden Verordnungen zu ersetzen. So wurde ein Schmiedegeselle wegen Hausfriedensbruch in eine Geldstrafe genommen, ein anderer Schmiedeknecht, weil er einen Schüler in der Michaelisnacht geschlagen hatte, ein „Schuhknecht“ wegen ungebührlichen Benehmens gegenüber einem Domherrn. Eine empfindliche Buße (26 ½ Schillinge 2 Pfennige) muß ein Geselle der Schneidergilde erlegen, weil er beim Tanze auf dem Gewandhaus gegen die gute Sitte gefehlt hatte. Der Chronist Henning Brandis berichtet von der Hinrichtung eines Kürschnergesellen im Jahre 1476, der im Verein mit anderen Gesellen einen Hildesheimer Bürger blutig geschlagen hatte. Ebenso wissen wir von der Hinrichtung eines Schneidergesellen im Jahre 1435.
Gegen Übergriffe ihrer Meister wurden die Gesellen durch gesetzliche Maßregeln geschützt. Einem Knecht, der etwa durch widrige Zufälle gezwungen sich Urlaub nehmen muß, sollen die Meister den Lohn nicht vorenthalten. Gab ein Mitglied der Schmiedegilde seinem Gesellen nicht den versprochenen Lohn, so mußte ihm der Zunftvorsteher die Ausübung des Gewerbes so lange verbieten, bis seinem Knecht Gerechtigkeit widerfahren war. Ebenso verboten die (Zunft-)Rollen die Abwendigmachung eines Gesellen durch einen anderen Meister bei Strafe.
Textquelle:
Walther Tuckermann
Inaugural-Dissertation
„Das Gewerbe der Stadt Hildesheim bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts“; Berlin 1906; Druck: E. Ebering Berlin