von J. H. Gebauer
Zu dem althergebrachten Würfelspiele, von dessen Gefahren für unsere deutschen Vorfahren schon Tacitus in seiner „Germania“ erzählt, hatten sich gegen Ende des Mittelalters noch andere Glücksspiele gesellt.
Im 14. Jahrhundert drang von Italien und Frankreich her das seit langem den Arabern in Spanien bekannte Kartenspiel bei uns ein, um einen raschen Siegeslauf durch alle deutschen Gaue anzutreten Und nicht viel später kam dann aus Italien auch die Lotterie nach Deutschland hinüber und fand ebenfalls weite Verbreitung. Langsamer immerhin als im Süden, den rege Handelsbeziehungen unmittelbar mit den welschen Nachbarlanden verknüpften, bürgerten sich diese neuen Spiele in Norddeutschland ein, und am längsten scheint sich - sofern wir hier die Zustände einer mittleren Handelsstadt wie Hildesheim als maßgebend betrachten dürfen – der zähe Niedersachse ihnen gegenüber ablehnend verhalten zu haben.
Während nämlich das Würfeln – „Dobbeln“ nennt man es bei uns – in Hildesheim so leidenschaftlich betrieben wurde, daß wie in anderen Orten so auch hier eigens „Dobbelherren“ ernannt waren, die das Würfeln um hohe Einsätze bestrafen mußten, geschieht im 15. Jahrhundert des Kartenspiels nur selten Erwähnung und lernen wir vollends das Lotteriespiel erst gegen den Schluß des 16. Jahrhunderts als Volksunterhaltung kennen. Weder die Aufzeichnungen der beiden Brandis, noch die Chronik des Dechanten Johann Oldecop – alle drei vorzüglich reichhaltige Quellen auch für die Kulturgeschichte – wissen von ihm etwas zu berichten, und auch die Akten des Hildesheimer Stadtarchivs schweigen davon bis hin zu den letzten Jahren des Reformationsjahrhunderts. Dann aber fließen die archivalischen Nachrichten plötzlich so reichlich und führen eine so vernehmliche Sprache, daß sie uns von dem Verlauf einer Hildesheimer Lotterie vor 300 Jahren ein anschauliches Bild vermitteln, dessen Züge festzuhalten sich wohl lohnen dürfte.
Im Gegensatz zu den heutigen Verhältnissen, wo der Lotteriebetrieb entweder Sache des Staates ist oder auf Grund behördlicher Ermächtigung und unter behördlicher Aufsicht von Vereinigungen und Verbänden zu Zwecken allgemeinen Interesses erfolgt, begegnen uns damals in Hildesheim als „Glückstöpfer“ Privatleute, die den „Glückshandel“ ganz auf eigene Rechnung und Gefahr ausübten. Sie ziehen gleich den Schaubudenbesitzern unserer Tage im Lande umher und stellen ihren „Glückshafen“ auf, wo immer sich hierzu günstige Gelegenheit zu bieten scheint. Besonders geeignet dafür waren die Märkte oder die Freischießen, da hier auch die ländliche Bevölkerung in hellen Haufen in die Städte strömte und Geld für ihre Unterhaltung opferte. Doch auch andere Anlässe läßt sich der Glückstöpfer nicht entgehen, wie denn z.B. die Hochzeit des Herzogs Friedrich Ulrich von Braunschweig einem Hildesheimer Unternehmer Gelegenheit gab, seinen Hafen in Wolfenbüttel aufzustellen. Namentlich Kaufleute, die ihr Geschäft nicht nährte oder die bei ihren Einkäufen unglücklich spekuliert hatten, scheinen sich dem Gewerbe des „Glückstöpfers“ zugewandt zu haben.
Daß solche Lotterien mit rein geschäftlichen Zwecken leicht zum schlimmsten Betrug des Publikums ausarten konnten, liegt auf der Hand. Es war doch ein unerhörter Unfug, wenn in Augsburg im Jahre 1470 bei 36.000 Losen nur 22 Gewinne zur Verfügung standen. Und wie hätten die Städte, die im Mittelalter sich doch noch weit mehr als heute zu peinlicher Überwachung aller Lebensverhältnisse ihrer Bürger berechtigt oder verpflichtet fühlten, deren Ausbeutung ruhig zusehen sollen! Sie mußten danach streben, ein Gewerbe ihrer Aufsicht zu unterstellen, das wie kein anderes den Einwohnern das Geld aus den Taschen lockte. In vielen deutschen Städten hatte man früher wohl allgemein Spielverbote erlassen, aber bald erkennen müssen, daß das nichts als ein Schlag ins Wasser war: die Spielleidenschaft war mächtiger als alle Ratserlasse. So fand man sich denn auch mit dem „Glückstopfhandel“ wohl oder übel ab und begnügte sich, ihn auf solidere Grundlagen zu stellen.
Vom Hildesheimer Stadtrat wurde zunächst die Persönlichkeit des Glückstöpfers selbst einer gründlichen Prüfung unterzogen. Man legte Wert darauf, daß der Mann behördliche Ausweise über die Reellität seiner bisherigen Glückshäfen beibrachte und scheint in späteren Jahren überhaupt nur noch Hildesheimer Bürger zu diesem Gewerbebetrieb in Hildesheim zugelassen zu haben. Man hatte die Leute derart ja ganz anders in der Gewalt, und der Ertrag des Geschäftes blieb zudem in der Stadt. Nachdrücklich untersagte man offenbar aus dieser doppelten Erwägung heraus allen „Bürgern und Bürgerschen“ auch den Besuch von auswärtigen Glückstöpfen, so vor allem in dem „Bergdorf“ Moritzberg, das, dicht vor den Toren der Stadt gelegen, Hildesheims Einwohner durch solche Unternehmungen anzulocken beliebte. Man verlöre sein Geld und versäume den Gottesdienst – so begründet der Rat sein Verbot.
Und wie den Glückshändler, so sah man sich nun auch seine Gewinne – den „Kram“, wie man es nannte – genauer an. Ratskommissare, die „Inspektoren“, nahmen an der Hand eines vom Glückstöpfer eingereichten Verzeichnisses deren Versicherung vor, ließen insbesondere die Gold- und Silberwaren durch einen vereidigten Goldschmied auf Feingehalt und Gewicht untersuchen. Endlich aber stellte man in Hildesheim die Ziehungen selbst unter strengste Aufsicht dieser Beamten.
Betrachten wir, bevor wir uns dieser Ziehung selbst zuwenden, auch den „Kram“ des Unternehmers noch ein wenig eingehender.
Was da der Glückstöpfer seinen Kunden nicht alles bietet! Bares Geld zwar vermissen wir ganz, im Übrigen aber versteht der kluge Geschäftsmann durch Berücksichtigung jedes Geschmackes Jung und Alt, reich und arm gleichmäßig anzulocken. Gold und Silber sticht dabei vor allem ins Auge. Da sind goldene Ringe und vergoldete Spiegel – der Wandspiegel kam erst im 16. Jahrhundert allgemein auf – von denen die billigsten mit kaum zwei, die teuersten aber mit fünfzig, ja hundert Taler ausgezeichnet sind. Weit massenhafter als das Gold ist aber natürlich das Silber vertreten, das seit Erschließung der amerikanischen Bergwerke in Strömen nach Europa floß. Nicht weniger als 29 silberne Schalen, 140 silberne Löffel und 170 der vielbegehrten silbernen Trinkgeschirre – wie hätte ihnen in jener trinkfrohen Zeit nicht der Preis zufallen sollen! – nennt die Gewinnliste von 1612. Und neben Dutzendware von kaum einem Taler Wert finden sich auch hier Stücke von hundert Talern darunter.
Und dort stehen in buntem durcheinander die mannigfaltigsten häuslichen Bedarfsartikel. „Ein Schiff, so man ins Haus hänget“, verschiedene „gemalte Tafeln“ und „Brustbilder“, kostbare Decken würden ein Schmuckstück selbst in einem vornehmen Haushalt bilden. Überall aber lassen sich neben zahllosen Zinngerätschaften auch die Messingkronen verwenden, die uns neben dem Vorrat des Glückstöpfers von 200 Tafelkerzen, 500 Lichtputzen und 200 kleinen Messingleuchten daran gemahnt, wie lichtdürstig und –bedürftig die „gute, alte Zeit“ doch war.
Die Kleidung des 16. Und des beginnenden 17. Jahrhunderts überbot durch üppige Verschwendung wohl diejenige aller früheren und späteren Tage. Dem trägt auch unser Glückstöpfer sorgsam Rechnung. Wohl führt er einfache Tuche und hunderte von Bündeln Knöpfe bei sich; aber auch hier prahlen allerlei Luxusartikel: Leibgürtel, silberne Schuhschnallen, eine Unmenge von kostbaren, z.T. seidenen Strümpfe, die namentlich aus England und Belgien bezogen wurden usw. Prächtige Frauenhauben und –hüte weisen deutlich darauf hin, wie stark der Händler auf die Putzsucht der Evastöchter spekuliert, die, wie wir erfahren, immer einen ganz besonders hohen Hundertteil der Spiellustigen stellten. Wie wohlfeil erscheinen uns aber heute selbst die kostbarsten Hüte unserer Damen neben denen, die unser Hildesheimer Glückstöpfer ausspielen ließ: er bietet eine „Weiberhaube“ zu fünfzig Talern und Hüte mit Perlenschnüre im Werte von 30, 40, 120 Talern! Im heutigen Geldeswert umgerechnet, würde solch ein Hut mithin auf etwa 500, 700, 2000 Mark zu stehen kommen.
Doch auch die Männer finden ihre Rechnung. Da sind insonderheit kostbare Waffen zu gewinnen, mit denen damals ja ein jeder, und war er auch noch so friedlich, umherstolzieren liebte: Rapiere mit und ohne Bordurengehänge, Pulverflaschen, Pistolen, Gewehre, diese gar mit perlmuttausgelegtem Schafte. Als vollends der in Böhmen ausbrechende große Krieg in weiten Kreisen die Besorgnis wachruft, daß der Brand in die eigene Heimat übergreifen möchte, da tragen die Hildesheimer Glückstöpfer von 1619 und 1620 dem sogleich durch verstärktes Angebot von Waffengerät Rechnung. Sechshundert „gemalte Kompasse“ des Glückstopfes von 1612 erinnern uns ebenso an die Interessen, die das Zeitalter der Entdeckungen heraufgeführt hatte, wie die fünfhundert Schreibtafeln und zweihundert „Schreibladen“ an den Wissensdrang, der seit Erfindung des Buchdruckerkunst die breiten Volksschichten ergriffen hatte. Und wie vortrefflich kennzeichnet auch die Tatsache, daß der Glückstöpfer nicht weniger als tausend Gebetbücher als Gewinn mit sich führt, den frommen Geist der Zeit, die noch ganz unter dem eindrucke der großen kirchlichen Reformbewegung stand.
Veranschaulichen wir uns nun endlich noch den Verlauf einer Lotterieziehung in Hildesheim, die in einem der vornehmsten Wirtshäuser der Stadt, im „Neuen Schaden“ oder im „Brauerhause“ stattzufinden pflegte.
Am Tage vor ihrem Beginn treffen die Kommissare alle Vorbereitungen. Nachdem sie die Gewinne besichtigt haben – bei der Lotterie von 1612 zählte man ihrer nicht weniger als 8500 – werden diese einzeln mit Ziffern und Buchstaben gekennzeichnet. Dann zerschneidet man die Zettel mitten in einem Buchstaben, heftet die eine Hälfte an den Gewinn und schüttet die anderen auf ein Laken. Nun werden die „blinden“ Loszettel (Nieten) dazu getan. Ihre Zahl richtet sich nach dem Wert oder nach der Anzahl der gewinne, und allgemein scheint man auf einen Gewinn im Durchschnittswerte von 1 Taler zwölf blinde Zettel gerechnet zu haben. So werden i. J. 1612 neben Gewinnlosen in Höhe von 8415 Talern 32 Groschen 6 Pfennigen 100.991 ½ Nieten eingelegt. Alle Zettel werden nunmehr gründlich durcheinander gemischt, in einen kupfernen „Glückstopf“ getan und dieser sofort von den Inspektoren und dem Händler mit sieben Siegeln – welch eine feierliche Rolle spielt doch immer diese Siebenzahl! – verschlossen. So verwahrt wandert der Glückstopf in die Behausung des einen der Inspektoren.
Am nächsten Tag wird der Topf in das Wirtshaus geschafft und, nachdem die Siegel auf ihre Unverletztheit geprüft sind, geöffnet. Der Losverkauf beginnt. Jeder Zettel kostet drei Mariengroschen – so viel wie die meisten Gewinne im Werte angesetzt sind; denn erst auf je 16 Treffer in dieser Preislage entfällt ein höherer von einem und mehr Talern. Leidenschaftliche Spieler aber, die durchaus gewinnen wollen, erstehen bisweilen Duzende, ja Hunderte von Zetteln, und der gefällige Geschäftsmann ist auch durchaus erbötig, diese Bezahlung solchen Kunden anstehen (anschreiben) zu lassen. Den Rekord hält da ein Hildesheimer Patrizier, der für hundert Taler Zettel ersteht, mithin 1200 Stück. Selbstverständlich blieben solche Fälle Ausnahmen, und je mehr die Glückstöpfer in den Jahren nach 1600 in Hildesheim zu einer beinahe jährlich wiederkehrenden Einrichtung wurden, desto mehr flaute das Interesse ab. So löste der Glückstöpfer von 1619 in der ersten Woche seiner Lotterie für 48, 62, 65, 42, 43, 34, 60 Talern täglich; in der zweiten Woche aber geht sein Umsatz gewaltig zurück und schwankt zwischen 10 und 20 Talern, ja sinkt an einem Tage einmal auf 4 Taler herab; der Händler hatte also hier nicht einmal fünfzig Lose abgesetzt.
Wer seine Gebühr bezahlt hat, darf nun selbst in den großen Glückstopf greifen und so viel Zettel entnehmen, wie er gekauft hat. Ein mitsamt den Inspektoren der Ziehung beiwohnender Ratsschreiber verzeichnet jede gezogene Nummer. Hat jemand einen beschriebenen Zettel gegriffen und also einen Treffer gemacht, so achtet man besonders darauf, daß der auseinander geschnittene Buchstabe unverletzt ist und genau mit der an dem Gewinne befestigten Zettelhälfte zusammenpasst. Dann empfängt der Gewinner auf der Stelle seinen Preis, darf ihn übrigens, sofern er ihm nicht zusagt, gegen den festgesetzten baren Wert dem Händler wieder übergeben.
An jedem Abend wird der Glückstopf von neuem Versiegelt und dem Gewahrsam eines Kommissars anvertraut. So geht es vierzehn Tage lang – die gewöhnliche Dauer einer Spielerlaubnis. Ist diese Zeit abgelaufen, so schüttet man die noch vorhandenen Zettel aus dem Glückstopf heraus, liest die „vornehmsten Gewinnzettel“ aus, zerreißt sie und zählt sie samt den übrigen geringeren Treffern und den blinden Zetteln nach.
Damit hat die Lotterie ihr Ende erreicht.
Versehen mit einer Bescheinigung der Inspektoren, daß sein Glückshafen ein solides Unternehmen sei und in Hildesheim einen ordnungsmäßigen Verlauf genommen habe, verlässt der Unternehmer die Stadt, um seinen Kram an anderem Orte auszustellen.
Textquelle: J. H. Gebauer: „Das Hildesheimer Lotteriewesen vor 300 Jahren“; Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde, 47. Jahrgang; 1914; Selbstverlag des Vereins; Seite 58-63