von Dr. med. Ernst Becker
Eine besonders schwierige Aufgabe wurde ihr aber gerade auf der Höhe des Mittelalters durch das furchtbare Umsichgreifen des Aussatzes, der Lepra gestellt.
Seit den Kreuzzügen und offenbar durch die Kreuzfahrer verschleppt, trat sie in ihrer entsetzlichsten Form überall auf, weit verbreitet, furchtbar ansteckend, ein Schreckgespenst für die Völker Europas. Kaum eine andere Krankheit vereinigt eine solche Summe von Jammer und Elend in sich, wie die Lepra.
Trotzdem hielt die Kirche sich für verpflichtet, nicht nur die Kranken leiblich und geistlich zu versorgen, es mußte auch die Verbreitung der Krankheit verhütet werden. Auch diese sanitäts-polizeiliche Aufgabe fiel anfangs der Kirche zu; erst allmählich wurde sie auch hier durch die Stadtverwaltung abgelöst.
Dieser Aufgabe wusste man nicht anders zu genügen, als durch völlige und konsequent durchgeführte Absonderung der Kranken von den Gesunden. Die Entscheidung darüber, wer als aussätzig zu behandeln sei, nahm die Kirche für sich in Anspruch. Die Untersuchung selbst war zwar Arten übertragen, die sich dieselbe nebenbei bemerkt gut bezahlen ließen: für Untersuchung eines Kindes auf Aussatz wurden 1432 dem Arzt Magister Hermann 2 Pfund 3 Schilling – oder nach unserem Geld (1899) etwa 30 Mark aus dem Stadtsäckel gezahlt!
Sie konnte aber nach dem damaligen Stand der Medizin nur eine sehr oberflächliche sein. Man urteilte nach gewissen Symptomen, namentlich nach der Beschaffenheit des Blutes, und ließ deshalb den zu Untersuchenden zur Ader. Oft werden auch die Vorsteher der Leprosorien mit der Untersuchung betraut.
Wer für aussätzig erklärt wurde, galt von dem Augenblick an als „bürgerlich tot“. Eine besondere Tracht machte ihn allen Begegneten schon von ferne kenntlich, überdies mußte er eine Klapper in den Händen tragen und damit bei jeder Annäherung von Menschen ein Zeichen geben. Er durfte nicht mehr in die Kirche, in ein Wirtshaus oder überall dahin gehen, wo Menschen versammelt sind. Ihm war verboten, aus öffentlichen Brunnen zu trinken, er mußte breite Wege auswählen und dort sich in der Mitte halten. Konnte er es in dringendster Not nicht vermeiden, mit einem anderen als seinesgleichen zu reden, so war er gehalten, unter den Wind zu treten, damit nicht sein Atem ansteckend wirkte, und wenn er etwas kaufen wollte, mußte er das gewünschte mit einem Stock berühren. Kurzum, er war von jedem anderen Verkehr als mit seinen Schicksalsgenossen abgeschnitten.
Besonders schwer mußte für den Kranken natürlich der Augenblick sein, der die Entscheidung brachte; wenn ihm mit der Eröffnung, daß er aussätzig sei, sozusagen das Todesurteil gesprochen wurde.
„War jemand bei der Untersuchung als aussätzig befunden, so wird er am festgesetzten Tage seiner Überführung vom Priester mit Kreuz und Prozession aus seinem Haus abgeholt und, in eine schwarze Decke gehüllt, zur Kirche geführt. Dort wurden die sieben Bußpsalmen und die Stelle aus Hiob: „ich weiß, dass mein Erlöser lebet“ über den Aussätzigen gelesen, der auf einer Totenbahre lag, mit Lichtern umgeben, wie ein Gestorbener. Auf dem Gottesacker, wohin sich dann der Zug begab, wurde ein Grab gegraben, in welches der Kranke hinabgelassen und mit drei Schaufeln Erde beworfen ward, während der Priester, wie über einen Toten, die Worte sprach: „Erde bist du und zur Erde sollst du werden!“
Danach wurde der 18. Psalm, die Geschichte Naemans des Aussätzigen und das Evangelium von den zehn Aussätzigen über ihm gelesen. Der Aussätzige beichtete, kommunizierte, wurde in ein dunkelfarbiges Kleid gehüllt und mit dem Abzeichen der Aussätzigen bezeichnet, dm Leprosorium zugeführt. Dort fand er die Genossen seiner Plage in den verschiedensten Stufen der Krankheit, von den ersten Anfängen an, wo die Kranken anscheinend noch gesund aussahen und ihre Arbeit verrichteten, bis zu den äußersten Stadien, wo die Haare ausfallen, haut und Fleisch mit aufbrechenden Geschwüren bedeckt, die Augen trübe, ja die Glieder selbst im Abfaulen begriffen waren. Die Kranken aßen je nach der Entwicklung ihres Leidens teils für sich, teils gemeinsam. Diejenigen, welche ohne Bezahlung aufgenommen wurden, hatte die Wirtschaft zu besorgen.
Eine klösterliche Ordnung regierte das Haus, über welche der Vorsteher zu wachen hatte. Männer und Frauen wohnten getrennt. Ihre bürgerlichen Rechte hatten sie verloren, doch blieb ihr Vermögen den Erben. Im Aussatzhaus hatte Niemand persönliches Eigentum. Wie Ordensleute empfingen alle die Tonsur und das Skapulier (Überwurf), die Ehe galt mit dem Eintritt in das Haus für aufgelöst. Niemand durfte das Haus bis zur Genesung – denn solche war nicht absolut ausgeschlossen – verlassen. Neben der Arbeit wurden alle durch regelmäßige gottesdienstliche Übungen im Trost des Glaubens erhalten und zur Fürbitte für ihre Wohltäter und die Verstorbenen verpflichtet.
Lag ein Kranker im Sterben, so wurde an die große hölzerne Tafel geschlagen. Alle versammelten sich um das Sterbelager. Eine Messe wurde gelesen, der Psalter oder drei mal fünfzig Vaterunser und Ave Marias gebetet und der Leichnam in der Umgebung des Hauses bestattet.“
Auch vor Hildesheims Toren lagen drei Leprosenhäuser, je eines für die Altstadt, Neustadt und Dammstadt. Jedes bildete einem mit Mauern umschlossenen Hof; innerhalb der Mauer lag auch Kapelle und Kirchhof, sodaß die Kranken ganz von der übrigen Welt abgeschlossen waren. Trotzdem gelang es ihnen wohl einmal durchzubrechen und in die Stadt zu gelangen. Es existiert nämlich bei den Handschriften der Altstadt ein anonymer Brief aus dem Jahre 1439, in dem vor einer leprösen Frau namens Ylsebe (Elisabeth) gewarnt wird, welche geäußert hatte, sie wolle in die Stadt gehen, dort kaufen und verkaufen, die Ratsherren berühren, um gesund zu werden, und sich mit dem Weihwasser in den Becken an den Kirchtüren waschen, um die Krankheit über die ganze Stadt zu bringen.
Dass der Altstadt gehörige Leprosenhaus, genannt Katharinenhospital, ist das älteste; es lag vor dem Ostertor in der Nähe der Steingrube, etwa dort, wo jetzt die Katharinenstraße befindet. Es wird zuerst in einer Urkunde aus dem Jahre 1270 erwähnt. Von Bischöfen und dem Rat der Stadt wird es gleichmäßig unterstützt und erfreut sich zahlreicher Schenkungen an Geld und Gütern. Lange Zeit bestand neben ihm keine anderen Leprosorien, so daß es zeitweise sehr überfüllt war.
Es bekundete daher am 18.3.1321 der Rat, daß der Provisor (Verwalter) des Hospitals zu ihm gekommen sei mit der Klage, daß die Zahl der Aussätzigen größer sei, als daß sie dort untergebracht werden könnten. Trotzdem müßten noch viele, die auf Aufnahme flehten, wieder abgewiesen werden.
Der Rat bestimmte daher, daß nicht mehr als 30 Personen dort zur Zeit aufgenommen werden sollten, insbesondere auch niemals Jemand eher als Nachfolger eines Todeskandidaten eingelassen werden sollte, als bis dieser wirklich gestorben sei. Außer den Aussätzigen befanden sich, wie aus einer Schenkungsurkunde des Jahres 1373 hervorgeht, im Leprosenhaus eine Klausnerin (clusnersche) und vier Boten (de se dar pleghen); ein bestimmter Priester las ihnen die Messe.
Es ist kaum zu glauben: sogar Gesunde drängten sich in das Haus der Aussätzigen trotz des Ekels, den diese Krankheit hervorrufen mußte, trotz der Gefahr der Ansteckung!
So sah sich denn der Rat gezwungen, am 29.2.1424 öffentlich bekannt zu geben, daß im Katharinenhospital nicht mehr als acht Gesunde (reyner lude) Pröven (Schenkung) beziehen könnten, „unde de anderen schullen alle unreyne sin“. Mancher Gauner mag sich damals durch künstliche Erzeugung von Hautausschlägen durch reizende Salben usw. Eingang verschafft haben.
Bei diesem Andrang ist es erklärlich, daß wir in den Hildesheimer Urkunden sehr zahlreiche Schenkungen und Zuwendungen für das Siechenhaus (sekenhus vor Hildensem) und seine Insassen (den armen seken, den uthzetschen luden, den armen spetelschen seken), und zwar teils von Privatleuten, teils aus der Stadtkasse verzeichnet finden. Dies war ein Ort, an dem Hülfe stets Noth that.
Während die Altstadt also bereits im Jahre 1270 ein Leprosenhaus besaß, datiert die erste sichere Kunde von dem Aussätzigenhaus der Dammstadt, dem hinter der vom Fürstbischof Bernhard im Jahre 1151 gegründeten Kirche St. Nicolai gelegenen Nicolaispital (in der Gegend der jetzigen Nicolaistraße unweit der Vereinigung von Trillkebach und Kupferstrang), vom Jahre 1422. In derselben fordert unter Erteilung eines 40tägigen Ablasses der Bischof Johann III. zu Almosenspenden für dasselbe auf, da die armen Aussätzigen große Not litten. 1430 befreite Bischof Magnus die Aussätzigen hinter St. Nicolaus von Zinsen und Diensten, gestattet der Knochenhauergilde, ihnen Vormünder zu bestellen, und erlässt u.A. auch eine spezielle Vorschrift über einen daselbst anzulegenden Abort (necessarium, dat is eyn heymelik ghemack), damit derselbe nicht durch etwaigen eintritt seiner Jauche in den Flußlauf die Fischereigerechtigkeit des nahe gelegenen St. Moritzstift beeinträchtigte.
Das jüngste der drei Leprosenhäuser ist das der Neustadt gehörige, genannt St. Crucis. Es lag vor dem Goschentor, dort wo jetzt (1899) der Friedhof der Lambertigemeinde sich befindet. Noch heute (1899) geht ein Teil des letzteren unter dem Namen „die Kapelle“.
Zuerst wird seiner in einer Schenkungsurkunde aus dem Jahre 1439 gedacht und in einer anderen aus dem Jahre 1443 heißt es, daß es erst jüngst erbaut und dicht außerhalb der Stadtmauer der Neustadt an der nach Marienburg führenden Landstraße gelegen sei. Das nahe gelegene Stadttor (das spätere Goschentor, bzw. Hohnsertor) wird einmal geradezu „porta leprosorum“ genannt. Indessen geht aus einer kurzen Notiz in den Stadtrechnungen hervor, daß es bereits im Jahre 14116 bestanden haben muß; es heißt nämlich unter den Einnahmen dieses Jahres: domus sanctae Crucis ante Honsedor nil dedit, d.h. es war von städtischen Abgaben befreit. Und so blieb es auch in der Folgezeit.
Dagegen zahlte ihm die Stadt einen jährlichen Zins von 3 Schillingen. Außerdem befreite der Domprobst Ekkehard von Hahnensee das St. Crucishospital von allen Diensten und Leistungen (1443) und Bischof Magnus bestätigte nicht nur diese Befreiung, sondern verlieh für Beisteuern an dasselbe obendrein noch einen 40tägigen Ablass (1444). In den folgenden Jahren wurden dem Leprosium auch von Privatpersonen reichliche Schenkungen und Stiftungen zum Teil.
Textquelle: "Die Geschichte der Medizin in Hildesheim während des Mittelalters"; von Ernst Becker, Oberarzt des städt. Krankenhauses zu Hildesheim; Verlag v. August Hirschwald; Berlin 1899; Seite 13f